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Verkehr & Smart Mobility

Standpunkte Warum Deutschland und Europa beim autonomen Fahren mehr Gas geben müssen

Philipp Raidt, Rechtsanwalt und Chief Operating Officer der Axel Springer Digital Ventures
Philipp Raidt, Rechtsanwalt und Chief Operating Officer der Axel Springer Digital Ventures Foto: privat

Es ist still geworden um das Thema autonomes Fahren in Europa. Andernorts nutzen Technologiekonzerne die Coronakrise für Zukäufe, pumpen Wagniskapitalgeber weiter gigantische Summen in Mobility-Start-ups. Europa aber droht den Anschluss zu verlieren, warnt Rechtsanwalt Philipp Raidt in seinem Gastbeitrag. Was es braucht, damit die Zukunft der Mobilität nicht allein in Kalifornien entschieden wird.

von Philipp Raidt

veröffentlicht am 25.11.2020

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Schwere Zeiten für das Zukunftsprojekt hoch- und vollautomatisiertes Fahren, so könnte man die Nachrichten der vergangenen Monate zusammenfassen: BMW und Mercedes legen ihre groß angelegte Zusammenarbeit beim automatisierten Fahren aus Kostengründen auf Eis. Continental „verschiebt“ Investitionen in das automatisierte Fahren ab Level 3. Man könne nicht mehr gleichzeitig in vernetzte Autos, Elektromobilität und automatisiertes Fahren investieren. Der neue Audi A8 geht ohne Level-3-Technologie an den Start. Marktbeobachter mutmaßen, es liege auch daran, dass die Audi-Technologie nicht weit genug und zu teuer sei. Weiter im Rennen ist der Volkswagen-Konzern, der seinen milliardenschweren Einstieg bei Argo AI vollzieht. Doch zumindest der zwischenzeitlich geschasste VW-Vorstand Andreas Renschler scheint skeptisch: „Wenn Investitionen verschoben werden, dann beim autonomen Fahren“, sagte er dem „Spiegel“. 

Wirft man den Blick über den Atlantik oder nach China, so ergibt sich ein anderes Bild: Waymo schließt eine externe Finanzierungsrunde über drei Milliarden US-Dollar ab. Damit nicht genug, wird das Unternehmen seine Robotaxis in Phoenix in Kürze einem breiteren Publikum anbieten – und zwar ohne Sicherheitsfahrer. GM-Tochter Cruise wird bis Jahresende erste autonome Fahrzeuge auf die Straßen von San Francisco schicken – ebenfalls ohne Sicherheitsfahrer. Wer die schwierigen Verkehrsbedingungen in der „Golden Gate City“ kennt, muss aufhorchen. 

Der e-Commerce-Boom beflügelt das Logistiksegment: Amazon erwirbt Zoox für mehr als eine Milliarde US-Dollar. Und Nuro sammelt eine halbe Milliarde US-Dollar ein, um die Entwicklung seiner Lieferroboter zu beschleunigen. In China erhält Didi 500 Millionen US-Dollar für seine „Autonomous Driving“-Einheit. Pony.ai wird nach einer weiteren Finanzspritze mit über fünf Milliarden Euro bewertet. In der ostchinesischen Stadt Hefei sollen zehn selbstfahrende VW-Fahrzeuge getestet werden, ab 2021 für die Öffentlichkeit zugänglich. Ein interessanter Schritt, aber klein im Vergleich zu „Apollo Go“, dem Robotaxi-Service von Baidu.

Wir sind Zeugen einer ersten Phase der Marktbereinigung, die Corona-bedingt früher stattfindet als erwartet. Wenig aussichtsreiche Akteure werden ausgesiebt. Besonders vielversprechende Unternehmen können ihre Entwicklung ungebremst weiter vorantreiben. 

Worum es geht – Innovationsführerschaft im Bereich künstliche Intelligenz 

Selbstfahrende Fahrzeuge sind keine technologische Spielerei. Technologieführerschaft auf diesem Gebiet ist essenziell, um die Erfolgsgeschichte der deutschen Autoindustrie fortzuschreiben. Mehr noch: Es geht um Innovationsführerschaft im Bereich Künstliche Intelligenz. Hinzu kommt die gesellschaftliche Relevanz. Denn die Technologie wird dazu beitragen, die Zahl der Verkehrstoten drastisch zu senken. Und gerade in ländlich geprägten Regionen können attraktive neue Mobilitätsangebote entstehen.

Dass das autonome Fahren kommen wird, lässt sich ernsthaft kaum bestreiten. Fest steht aber auch, dass es bis zur Marktreife länger dauern wird als angenommen. Für die europäischen Unternehmen könnte das ein Ansporn sein, zu den Innovationsführern aufzuschließen. 

Doch dafür scheint den meisten Akteuren das erforderliche Kapital und der Glaube zu fehlen. Für die Entwicklung selbstfahrender Fahrzeuge sind gigantische Investitionen erforderlich. Umsätze lassen sich damit kurzfristig nicht erzielen. Ein Dilemma gerade für die Autobauer, deren Aktionäre weiter auf stattlichen Dividendenausschüttungen beharren. Im Vorteil sind zum einen Technologieriesen und VC-finanzierte Unternehmen, deren Investoren voll auf Wachstum setzen. Zum anderen Unternehmen, die, wie in China, von massiver staatlicher Förderung profitieren. 

Es wäre jedoch zu kurz gesprungen, wollte man allein damit den Rückstand der deutschen Unternehmen erklären. Denn auch beim Know-how hapert es gewaltig. Die Entwicklung von Lösungen für das autonome Fahren ist vor allem ein Software-Game. Und dieses Expertenwissen ist weder den alteingesessenen Autobauern noch den Zulieferern in die Wiege gelegt. Strategische Allianzen sind ein möglicher Ausweg. Aber nur, wenn sie wirklich smart sind. Und nicht, wenn schwächelnde Verfolger ihre Self-Driving-Units zusammenwerfen.

Was wir brauchen – und eine Chance, die es zu nutzen gilt

Was wir dringend brauchen, ist echte Leidenschaft für neue Technologien und Zukunftsglauben. Deutschland zum Leitmarkt für das autonome Fahren und zur Mobilitätsnation der Zukunft zu machen – das könnte die große, greifbare Vision sein, auf die wir als Gesellschaft gemeinsam hinarbeiten.

Den Skeptikern spielte bislang in die Hände, dass die Rahmenbedingungen in Deutschland komplex waren. In China helfe der Staat, alles gehe schneller und einfacher. Alternativ könne man die Entwicklung in Kalifornien vorantreiben – nicht nur des besseren Wetters wegen, so lauteten die Einwände. Jetzt aber erarbeitet die Bundesregierung als erstes Land der Welt eine Regulierung für vollständig fahrerlose Fahrzeuge auf öffentlichen Straßen (SAE-Level 4). 

Eine riesige Chance für die hiesigen Mobilitätsanbieter, so könnte man meinen. Doch deren Begeisterung scheint sich einmal mehr in Grenzen zu halten. Es sind Technologieunternehmen wie Mobileye, eine Intel-Tochter, die die sich bietenden Möglichkeiten nutzen wollen. „Ich glaube, dass Deutschland eine führende Rolle einnehmen kann und Referenz für die gesamte EU wird“, lässt sich Mobileye-Manager Johann Jungwirth im „Handelsblatt“ zitieren. Das neue Gesetz gebe hoffentlich bald die Möglichkeit, den Sicherheitsfahrer rauszunehmen. Dann könne es losgehen.

Egal, ob internationaler Tech-Konzern oder heimischer Autobauer: Wer die technischen Anforderungen des geplanten Gesetzes erfüllt, wird vom Kraftfahrt-Bundesamt die Zulassung erhalten. Aus Verbrauchersicht ist das verlockend: Endlich könnte die neue Technologie auch hierzulande buchstäblich erfahrbar werden. Für den Wirtschaftsstandort Deutschland aber wäre es peinlich und bitter zugleich, sollten andere die Initiative ergreifen und die neuen rechtlichen Möglichkeiten zuerst nutzen. Sicher ist: Es wird nicht mehr lange dauern, bis feststeht, ob wir beim autonomen Fahren zukünftig in die Rücklichter der Fahrzeuge von Waymo One, Tesla und Co. blicken werden.

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