Wenn es um die knapp 11 Millionen Tonnen Lebensmittelverluste geht, die jährlich in Deutschland anfallen, kommt man an einem Fakt nicht vorbei: Der Großteil der Abfälle, 60 Prozent, fällt in privaten Haushalten an. So entsteht der Eindruck, dass vor allem die Verbraucher:innen für Lebensmittelabfälle verantwortlich sind. Das ist allerdings nur die halbe Wahrheit.
Denn auch wenn die Verbraucher:innen Teil des Problems sind, werden sie von Herstellern und Handel zur Verschwendung verleitet. Ein Beispiel dafür sind etwa übergroße Verpackungen. In Gesprächen mit verschiedenen Lieferanten und Unternehmen aus dem Lebensmittelbereich wird zudem deutlich, dass das Mindesthaltbarkeitsdatum von der Industrie oft bewusst sehr früh angesetzt wird, um sicherzustellen, dass das Produkt zum Zeitpunkt des Verzehrs noch genauso aussieht und schmeckt wie am Tag der Produktion. Manche Hersteller gehen selbst sehr offen mit dieser Vorgehensweise um. Doch viele Produkte sind oft noch deutlich länger haltbar, als den Verbraucher:innen dadurch suggeriert wird.
Die Tricks der Händler, um mehr zu verkaufen
Auch die übrige Liste der verhaltensökonomischen Methoden der Supermärkte ist lang: Ob Angebote, die große Ersparnisse versprechen oder die süßen Verlockungen an der Kasse, die vielen das letzte bisschen Selbstbeherrschung kosten. Hinzukommt die Größe des Einkaufswagens oder -korbs, der meist bewusst überdimensioniert gewählt ist: Große Wagen lassen den Einkauf kleiner wirken, wodurch Verbraucher dazu neigen, auch mehr hineinzulegen.
Sogar die Hintergrundmusik und Gerüche im Supermarkt sind in den meisten Fällen Kalkül. Langsame Musik soll Kund:innen länger im Laden halten und angenehme Düfte, wie der von frischem Brot, den Appetit anregen. All das soll die Verbraucher:innen dazu bewegen, mehr zu kaufen, als sie eigentlich brauchen. Kein Wunder, dass dann in den privaten Haushalten so viele Lebensmittel im Müll landen.
Europäische Vorreiter im Kampf gegen Lebensmittelverluste
Leider ist die Bundesregierung gegen diese Praktiken des Handels bisher kaum vorgegangen – stattdessen gibt es Empfehlungen und Vereinbarungen auf freiwilliger Basis. Der im vergangenen Jahr geschlossene Pakt gegen Lebensmittelverschwendung zwischen dem Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft und einigen Supermarktketten ist nicht verbindlich, er beruht bis heute auf der freiwilligen Zustimmung der Supermärkte. Sanktionen bei Nichteinhaltung gibt es keine.
Nichtsdestotrotz lässt sich laut einem Gutachten des Thünen-Instituts ein erster Erfolg verbuchen. So haben die am Pakt teilnehmenden Handelsketten im letzten Jahr ihre Lebensmittelabfälle insgesamt um 24 Prozent reduzieren können. Das Ziel, die Lebensmittelverschwendung bis 2025 um 30 Prozent zu senken, ist somit in greifbarer Nähe. Allerdings weist das Institut darauf hin, dass die Reduzierungsziele in den einzelnen Unternehmen und nicht nur insgesamt erreicht werden müssen.
Aktuell ist es noch so, dass einige Händler den Zielen deutlich näher sind als andere. Das hängt wohl auch damit zusammen, dass die jährlich von den Unternehmen übermittelten Daten an das Thünen-Institut anonymisiert veröffentlicht werden. Würden die Daten transparenter kommuniziert, wären die Bestrebungen einzelner Handelsketten vermutlich deutlich größer.
Das Beispiel zeigt, dass es in der deutschen Politik neben der datenbasierten Transparenz auch keine verbindlichen Instrumente gibt, wie sie in anderen europäischen Ländern zur Reduzierung von Lebensmittelabfällen eingeführt wurden. Und wenn doch, dann scheitern sie spätestens in der Umsetzung – an rechtlichen oder bürokratischen Hürden.
Andere europäische Länder sind Vorreiter
In Frankreich sind Supermärkte mit einer Verkaufsfläche von mehr als 400 Quadratmetern verpflichtet, noch genießbare Lebensmittel an gemeinnützige Organisationen zu spenden – auch wenn das Mindesthaltbarkeitsdatum überschritten ist. Zusätzlich profitieren Händler dort von Steuergutschriften für ihre Lebensmittelspenden.
In tschechischen Supermärkten gelten mittlerweile hohe Geldstrafen, wenn unverkaufte Lebensmittel nicht gespendet werden. Italien setzt unterdessen auf positive Anreize wie Steuererleichterungen. Ein weiteres italienisches Gesetz stellt sicher, dass Organisationen, die Spenden annehmen, rechtlich wie Endverbraucher behandelt werden, sodass sie im Falle von Hygienemängeln nicht haften. In Österreich sind große Händler immerhin verpflichtet, ihre Lebensmittelentsorgung alle drei Monate offenzulegen.
Während Frankreich und weitere europäische Länder also weltweit eine Vorreiterrolle im Kampf gegen Lebensmittelverschwendung einnehmen, bleibt Deutschland hinter seinen Möglichkeiten und seiner Verantwortung zurück.
Und das, obwohl erst kürzlich der vom Parlament eingesetzte Bürgerrat „Ernährung im Wandel“ einen Vorschlag für eine Lebensmittelspendenpflicht, vergleichbar zu der in Frankreich, hervorgebracht hat. Ernsthaft verfolgt wurde die Empfehlung, die immerhin aus der Mitte der Gesellschaft kommt, von der Politik aber leider nicht. Stattdessen verlässt man sich darauf, dass sich die EU dem Thema schon widmen wird. Doch auch hier gibt es nur minimale Fortschritte zu verzeichnen – eine Reform des Mindesthaltbarkeitsdatums steht schon lange Zeit aus.
Künstliche Intelligenz gegen Lebensmittelverschwendung
Dabei zeigt auch ein Blick auf Länder außerhalb Europas, wie kreativ und mit welchen modernen Möglichkeiten Lebensmittelverschwendung bekämpft werden könnte. In Japan beispielsweise subventioniert die Regierung Technologien zur Verbesserung der Logistik und Reduzierung von Überproduktion.
Auch in Südkorea kommen im Kampf gegen Lebensmittelverschwendung neueste Technologien zum Einsatz: Dort gibt es etwa Mülltonnen, die die Menge an weggeworfenen Lebensmitteln wiegen und speichern. Am Ende des Monats erhalten die Einwohner:innen eine Rechnung – pro Kilo Müll werden knapp 50 Cent berechnet. Außerdem landen fast 100 Prozent dieser Lebensmittelabfälle in einer Verarbeitungsanlage, wo sie zu Biogas, Tierfutter oder Dünger recycelt werden. Künftig soll die Mülltonnen-KI auch in Schulküchen eingesetzt werden, um herauszufinden, wie viele Mahlzeiten tatsächlich gekocht werden müssen.
Der Blick ins Ausland zeigt also deutlich, dass Deutschland keineswegs auf EU-Gesetze warten muss, um Lebensmittel vor dem Müll zu retten. Ein guter Anfang wäre, Supermärkte über die Rechtsfigur des „karitativen Lebensmittelunternehmens“ von der Haftung zu entbinden, sodass auch Lebensmittel nach Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums bedenkenlos gespendet werden können.
Zudem ließe sich eine Befreiung von der Umsatzsteuer bei Lebensmittelspenden einführen, ähnlich wie in Frankreich und Italien. Diese Vorgehensweise sollte jedoch sorgfältig geprüft werden, um sicherzustellen, dass die Steuererleichterungen keine falschen Anreize für Unternehmen schaffen. Eine Lösung könnte darin bestehen, dass Unternehmen nachweisen müssen, dass gespendete Lebensmittel tatsächlich unvermeidbare Überschüsse sind, etwa durch standardisierte Dokumentationen und stichprobenartige Kontrollen.