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Standpunkte Daten-Genossenschaften statt Daten-Eigentum

Jaron Lanier, Friedenspreisträger und Informatiker
Jaron Lanier, Friedenspreisträger und Informatiker Foto: dpa

Der Data Governance Act hat seine Schlagkraft verloren und wird die Macht der Tech-Konzerne weiter festigen, schreiben Jaron Lanier und Glen Weyl. Dabei hätte das Gesetz ein echtes zivilgesellschaftliches Gegengewicht zu Tech-Unternehmen aufbauen können: Die Daten-Genossenschaften.

von Jaron Lanier

veröffentlicht am 25.01.2021

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Im vergangenen Jahr hatten Themen, die nichts mit Pandemien, Wahlen oder deren Auswirkungen zu tun haben, es schwer, unsere Aufmerksamkeit zu finden. Dabei gehen all unsere Probleme auf die kaputte Informations- und Technologie-Umgebung zurück, durch die wir navigieren und die voller Hass, Misstrauen und Desinformation ist. Die Botschaft aus dem Tech-Sektor ist deutlich: Die Roboter kommen und Menschen werden wirtschaftlich überflüssig. Schon heute ist es der Fall, dass sich die wirtschaftlichen Erträge im Zusammenhang mit dem technologischen Wandel in den letzten Jahren geradezu absurd konzentriert haben. Das Gefühl, dass Technologie die menschliche Welt aushöhlt, breitet sich immer weiter aus. Länder wie Estland oder Taiwan, die es geschafft haben, digitale Technologien in den Dienst der Gesellschaft zu stellen, bleiben von diesen aktuellen Problemen weitestgehend verschont. Und das ist kein Zufall. 

Data Governance Act: Schlagkraft des Entwurfs verloren

Deshalb ist es besonders schade, dass eine wichtige digitalpolitische Debatte nicht in der breiten Öffentlichkeit geführt wird – zu einem Gesetz, welches das Potenzial hat, den europäischen digitalen Markt in Richtung Estland oder Taiwan zu entwickeln. Der europäische Data Governance Act (DGA), den die Europäische Kommission Ende November vorgestellt hat, ist derzeit eines der vielversprechendsten Gesetzesvorhaben auf der ganzen Welt. Leider ging zwischen einem geleakten Entwurf aus dem Oktober und der finalen Fassung die eigentliche Schlagkraft des Entwurfs verloren. Stattdessen wurde er verwässert und die guten Aspekte mit diversen „Giftpillen“ ersetzt. Wenn der Data Governance Act so verabschiedet wird, wäre er nicht effektiv und würde ganz im Gegenteil die Macht der dominanten amerikanischen Tech-Konzerne weiter festigen. Die europäische Öffentlichkeit muss jetzt aufwachen und sich dafür einsetzen, dass die ursprünglich angedachte Variante des Gesetzes verabschiedet wird. 

Der Data Governance Act ist zusammen mit dem Digital Services Act und dem Digital Markets Act Teil eines Regulierungs-Trios, mit dem die digitale Ökonomie in Europa gestaltet, die Monopolisierungstendenzen und der Überwachungskapitalismus, die wir aus Filmen wie The Social Dilemma kennen, überwunden werden sollen. Das Gesetz selbst enthält viele Bestimmungen, manche betreffen die Daten des öffentlichen Sektors. Aber der Kern des Gesetzes adressiert eines der immer deutlicher werdenden Defizite der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO). 

Hoffnungen, dass die DSGVO Daten-Subjekte befähigen würde, ihr Schicksal in der Online-Welt selbst in die Hand zu nehmen und die ausbeuterischen Praktiken der digitalen Ökonomie damit in die Schranken zu weisen, haben sich zum Großteil nicht erfüllt. Das Problem: Für einzelne Nutzerinnen und Nutzer ist es schwierig, die allgemeinen Dynamiken der Datenökonomie zu beeinflussen. 

Die DSGVO verfolgt den Ansatz von personenbezogenen Daten, doch die meisten Daten weisen einen Bezug zu mehr als nur einer Person auf. Ob Emails, Kommentare, oder die Film- und TV-Präferenzen einer Familie – all das sagt etwas über das Verhalten und die Präferenzen von mehreren Personen gleichzeitig aus. Dadurch ist es nahezu unmöglich für Individuen, ihr Recht auf Datenportabilität auszuüben, ohne dabei die Rechte von anderen zu berühren. Somit haben Einzelne wenig in der Hand, wenn sie Änderungen an Regeln oder AGBs verlangen beziehungsweise diese auch nur verstehen wollen. Stattdessen präsentieren Unternehmen ihnen Take-it-or-leave-it-Konditionen, mit denen diese dann Zugang zu einem Großteil ihres Sozial- und Arbeitslebens bekommen. 

Wenn Individuen ihre Datenrechte jedoch poolen und demokratische kollektive Entscheidungen darüber treffen könnten, wie ihre Daten genutzt werden, würde das an den Grundprinzipien der Datenökonomie rütteln. Dazu ein paar aktuelle Beispiel: Als Apple vor kurzem im Sinne seiner User die iPhone-Einstellungen so änderte, dass Tracking nicht mehr standardmäßig erlaubt ist, reagierte Facebook mit einem Frontalangriff und einer Öffentlichkeitskampagne. Das Ziel: Apple zum Zurückrudern zu bewegen. Apple konnte für Facebook-Nutzerinnen und -Nutzer etwas erreichen, was sie niemals selbst hätten durchsetzen können. 

Daten-Genossenschaften als zivilgesellschaftliches Gegengewicht

Natürlich ist das ein Beispiel von einem Tech-Riesen, der einem anderen in die Suppe spuckt. Doch Taiwan zeigt, dass die Zivilgesellschaft einen ähnlichen Einfluss haben kann. Ein Universitätsprofessor koordiniert dort eine „Daten-Genossenschaft“, die funktioniert so: Bürgerinnen und Bürger monitoren die Luftqualität mit sogenannten „Air Box“-Sensoren. Gemeinsam verhandelt diese Kooperative mit Unternehmen und dem Staat über den Zugang zu den aggregierten Daten, anhand derer man beispielsweise ablesen kann, wie viel Luftverschmutzung vom chinesischen Festland nach Taiwan hinübergelangt. Im Gegenzug bekommt die Kooperative noch weitere „Air Boxes“ für ihr Netzwerk. Ein ähnlicher Mechanismus wurde benutzt, um die Maskenvorräte in der Corona-Pandemie zu kontrollieren. Damit wollte man das Vertrauen der Öffentlichkeit sichern und verfügbare Bestände schneller verteilen. 

Der frühzeitig geleakte Entwurf des Data Governance Act hätte auf diese Erfolge aufgebaut und solche Daten-Genossenschaften auch für europäische Bürgerinnen und Bürger ermöglicht. Doch der schlussendliche Gesetzestext hat eine ganz andere Schlagrichtung: Stattdessen wird es Einzelnen sogar direkt verboten, ihre Datenrechte kollektiv auszuüben. Statt das kollektive Handeln zu fördern, wie die Gesetze, die einst die Bildung von Gewerkschaften ermöglicht haben, wird dieses aktiv verhindert, so wie die „Right-to-Work“-Gesetze in manchen US-Bundesstaaten sich negativ auf die Arbeitnehmerrechte auswirken.  

Wie kam es zu diesem Paradigmenwechsel? Facebook und Google fürchten angesichts der neuen Möglichkeiten, die sich durch solche Daten-Genossenschaften ergeben würden, eine Gefahr für ihr Geschäftsmodell und haben deswegen ihre Lobby-Aktivitäten in Brüssel ausgeweitet. Darüber berichtete etwa die New York Times.

„Daten-Eigentum“: Neoliberalismus in Reinform

Die Unternehmen bekommen dabei auch indirekte Unterstützung von fehlgeleiteten Aktivisten. Diese hängen der Vorstellung nach, dass jede und jeder Einzelne absolute Kontrolle über seine Daten haben sollte. Dabei verkennen sie, dass normale Daten-Subjekte ihre Rechte gemeinsam ausüben müssen, um ein Gewicht zu haben. Ein Beispiel sind hier die Piratenparteien, die in die gleiche Richtung wie Google arbeiten, ein anderes ist die auf Datenschutz fokussierte Gruppe Digi.me, die sich auf kryptografische Protokolle und die individuelle Ausübung von Rechten  konzentriert – und dabei kollektive Verhandlungen ausschließt.  

Sie fallen also auf den selben Taschenspielertrick herein, mit dem Gewerkschaften in den USA in die Knie klein gehalten und der Wohnungsmarkt im Vereinigten Königreich privatisiert wurde. Ein individualisiertes „Daten-Eigentum“ klingt wie das Schwert des kleinen Mannes gegen übermächtige Konzerne, ist jedoch insgeheim eine wirtschaftsfreundliche Giftspritze, die den Menschen die Möglichkeit nimmt, kollektiv für ihre Rechte einzustehen. Das ist ein gefährliches neues Gesicht des guten alten Neoliberalismus. 

Europa hat jetzt die Gelegenheit, den überholten Individualismus zu überwinden und die Zivilgesellschaft in die Lage zu versetzen, sich zu organisieren und ihre Interessen in der Welt der Daten zu vertreten. Daten-Genossenschaften haben das Potenzial, wenn sie richtig reguliert werden, Minderheiten vor Krankheiten bewahren, anstatt sie mit Predictive Policing noch stärker auszugrenzen. Jede Bürgerin und jeder Bürger könnte so einen fairen Anteil an der Wertschöpfung haben, die mit ihren Daten entsteht. Die Rede im Netz würde somit von Communities beaufsichtigt und nicht von Unternehmen oder Regierungen.  

Diese Idee funktioniert ähnlich wie Mikrokredite in verarmten Regionen – denn was die Qualität seiner Inhalte angeht, können wir das heutige Internet durchaus als verarmt betrachtet. Wenn sich in diesen Regionen Menschen ohne Kredithistorie zusammenschließen und gegenseitig die Verantwortung für die Rückzahlung von Krediten übernehmen, dann werden die Kredite in der Regel zurückgezahlt, selbst in den ärmsten Gemeinden. Wenn also Social-Media-Nutzer sich in Gruppen zusammenschließen und eine Marke bilden, die gemeinsam aufsteigt und fällt, werden es die bösartigsten Individuen schwer haben, in einer Gruppe mit einem guten Ruf Anschluss zu finden. Nutzerinnen und Nutzer müssten dann zumindest mehr nachdenken, bevor sie etwas posten – diejenigen, die Beispiele für maschinelle Lernmodelle liefern, würden sich um Reputation bemühen. Zudem wäre die Anzahl der Gruppen kleiner als die der Individuen, was die Bewertung von bösartigen oder fehlgeschlagenen Aktivitätswellen nachvollziehbarer macht. 

Diese Idee kann als Wiederbelebung der Zivilisierung gesellschaftlicher Institutionen gesehen werden, die oft zerstört wurden, wenn Tech-Plattformen nach dem Motto „Move fast and break things“ handeln. Dies ist der Weg – der einzige Weg – um die Qualität des Internets ohne Zensur durch eine zentrale Behörde zu verbessern. Die EU kann aber keine innovativen Lösungen für die schlimmsten Probleme des Internets erforschen, wenn sie Bürgerinnen und Bürger effektiv daran hindert, sich zusammenzuschließen. Die Europäerinnen und Europäer müssen sich jetzt für die Daten-Genossenschaften aussprechen, damit sie bald von ihnen profitieren können. 

Jaron Lanier ist Informatiker und Virtual-Reality-Pioneer. Er fordert ein Ende der Umsonst-Mentalität, mit der Unternehmen kostenlosen Zugriff auf die Daten von Bürgerinnen und Bürgern bekommen. 2014 wurde Lanier für seine Arbeit mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Glen Weyl ist Ökonom, Kapitalismuskritiker und berät Microsoft. 


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