Standpunkte Dezentrale KI: Europas Trumpf im globalen Tech-Wettstreit

Während die Welt gebannt auf die zentralen KI-Giganten blickt, schlummert in Europas Industrie ein ungeschliffener Diamant: die dezentrale Künstliche Intelligenz gepaart mit Industriedaten. Sie birgt das Potenzial, unsere vermeintlichen Schwächen in Stärken zu verwandeln und Europa eine technologische Führungsrolle jenseits des Mainstreams zu sichern.
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Jetzt kostenfrei testenStellen Sie sich vor: Ihr Herd riecht mithilfe einer KI-Sensorik, die Partikel und flüchtige Stoffe auswertet, was Sie kochen, und gibt Ihnen Tipps oder verhindert das Anbrennen. Ihre Waschmaschine weiß aufgrund einer KI, die im Ultraschallbereich „hört“, dass in einigen Tagen die Waschpumpe ausfällt und bittet um Hilfe. Ihr Auto sieht durch eine Nahinfrarotkamera mit eingebetteter Künstlicher Intelligenz, ob Sie als Fahrer müde oder aggressiv sind und bald auch, ob Sie medizinische Hilfe brauchen.
Sie denken, das ist Zukunftsmusik? Damit liegen Sie zunehmend falsch. Denn während seit ChatGPT und Co. die ganze Welt über große, zentrale KI-Sprachmodelle spricht und ein geopolitisches Wettrennen in einer multipolaren Welt begonnen hat, entsteht eine andere KI-Technologie, die – gerade für Deutschland und Europa – nicht minder relevant ist. Die Rede ist von dezentraler KI, sozusagen „KI auf dem Chip“, auch Embedded-KI genannt.
Sie ermöglicht lokale Datenverarbeitung auf kleinen Halbleitern direkt an der Datenquelle – und das bei Kosten von wenigen Dutzenden Cent pro Einheit. Dabei generiert diese KI keine Bilder, Texte oder gar Deepfakes. Stattdessen erkennt sie hochauflösende Muster, trifft Entscheidungen und tätigt Vorhersagen, beispielsweise über die Ausfallwahrscheinlichkeit von Maschinen. Dies alles erfolgt direkt vor Ort, wodurch es möglich ist, KI aktiv zu nutzen, ohne dabei auf eine permanente Verbindung zu einer Cloud oder einem Rechenzentrum angewiesen zu sein. Es ist gut vorstellbar, dass zukünftig fast jedes technische Objekt – vom Wasserkocher über eine Industriemaschine bis hin zum Auto - solche lokalen Künstlichen Intelligenzen an Board hat.
Vom menschlichen Körper lernen
Die Natur macht es vor: Unser Körper verarbeitet oft Signale dezentral in Auge, Rückenmark und Haut, während das Gehirn übergeordnete Aufgaben übernimmt. Analog dazu braucht auch eine starke KI-Architektur beides: zentrale Intelligenz für komplexe Aufgaben und dezentrale Verarbeitung für unmittelbare Reaktionen und lokale Erkenntnisse. Während sich der Fokus aktuell auf lose vom menschlichen Gehirn inspirierte Künstliche Intelligenzen, beispielsweise in Form großer und universeller Sprachmodelle richtet, dürfen wir die Bedeutung der spezialisierten, dezentralen Sinnesorgane und Verarbeitungscluster nicht unterschätzen. Es braucht nämlich beides – und das im engen Zusammenspiel mit einer klaren Aufgabenteilung.
Von Saulus zu Paulus: Europas Chancen
Gerade in Europa und Deutschland würde die Technologie im breiten Einsatz unsere vermeintlichen Schwächen nivellieren: Sei es beim Datenschutz, weil die sensiblen Daten vor Ort bleiben und nicht zum zentralen Server müssen, wodurch eine höhere Akzeptanz für die Nutzung erreicht werden kann. Sei es bei der Infrastruktur, die oft eher fragmentiert und schwach vernetzt ist und durch die Nutzung von dezentraler KI entlastet werden kann. Oder bei Energieeffizienz: Größere Cloudserver aufzubauen ist allein schon durch den enormen Stromverbrauch bei vergleichsweise hohen Energiepreisen in Deutschland kein Selbstläufer. Bei dezentraler KI, den optimierten Halbleitern und den entfallenden Übertragungswegen bieten sich hier zahlreiche Vorteile.
Während die USA und China sich auf generative KI konzentrieren, hat Europa die Chance, bei industrieller, dezentraler KI eine Führungsrolle zu übernehmen. Denn die Industriedaten sind Europas technologisch wertvoller Schatz. Nicht zuletzt aufgrund des hohen Lohnniveaus stehen bei uns im Land hochautomatisierte Fabriken, die täglich Unmengen an solchen nicht-personenbezogenen Daten generieren, im Fokus.
Die Politik ist gefordert
Die zukünftige Bundesregierung steht vor einer entscheidenden Weichenstellung. Wir begrüßen die im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD vereinbarte Hightech-Agenda für Deutschland. Es gilt dabei jedoch, die Chancen der dezentralen KI nicht länger zu übersehen, sondern sie langfristig als strategischen Pfeiler für Europas industrielle Zukunft zu begreifen. Statt sich im Schatten globaler KI-Giganten zu verstecken, deren Macht über uns durch die Zolldiskussionen immer greifbarer wird, muss die Politik jetzt mutig voranschreiten und die Rahmenbedingungen für diese Schlüsseltechnologie aktiv gestalten.
Konkret bedeutet das: Es braucht einen unbürokratischen Innovationsgeist, der beispielsweise überbordende Dokumentations- und Transparenzpflichten – von Lieferkettengesetz bis DSGVO und AI Act – kritisch hinterfragt und so verschlankt, dass sie die Entwicklung und Implementierung dezentraler KI nicht unnötig fesseln. Ebenso sind pragmatische und praxisorientierte Ansätze für Nachhaltigkeitsziele gefragt, die technologischen Fortschritt nicht ausbremsen, sondern intelligent integrieren.
Dezentrale KI spielt in der heutigen Hochschullehre eine kaum wahrnehmbare Rolle. Die zukünftige Bundesregierung kann ein Förderprogramm für die Schaffung eines Innovationsökosystems zu dezentraler KI bestehend aus neuen Professuren, Forschungsprogrammen, Technologietransfer und Venture Capital schaffen. Zudem können heute schon die für dezentrale KI benötigten Chips vor Ort produziert werden, was die Abhängigkeit von außereuropäischen Chipfabriken spürbar reduziert. Die für den Ausbau der bestehenden Produktionskapazitäten benötigten Mittel sind im Vergleich zu den für die gescheiterte Ansiedlung von Intel in Magdeburg nicht nur ein Bruchteil, sondern würden auch zu einem nachhaltigeren und souveränen Innovationsökosystem führen.
Staat als Ankerkunde
Mehr denn je braucht es in der Phase von geopolitischer Neuordnung gerade in Deutschland und Europa eine Mentalität des Aufbruchs. Ein Miteinander, das den Mut zu Innovation und den damit verbundenen Risiken, aber auch Visionen fördert, anstatt in Daten-Egozentrik zu versinken. Es gilt, auch durch den Staat als Ankerkunde und agiles Vorbild mit Sogwirkung, den Ausverkauf strategisch wichtiger KI-Startups durch ausländische Investoren oder Großkunden zu verhindern. Denn jede Abwanderung ist eine irreversibel verspielte Opportunität – und letztendlich ein Zukunftsfragment weniger für ein freies und selbstbestimmtes Europa.
Ohne KI-Souveränität hat Europa keine Zukunft, sondern wird zum Spielball, den sich die anderen Großmächte fröhlich hin und her schieben. Noch haben wir die Chance und die aktive Pole Position, diese Technologie in unbesetzten Bereichen von unseren menschenzentrierten Werten aus zu denken und wettbewerbsfähig zu gestalten. Greifen wir nicht ein, werden wir die Standards anderer übernehmen und die Abhängigkeiten weiter anwachsen. Es gibt noch die weder von Regulierung noch vom Fortschritt anderer verwucherten Wege - warum gehen wir sie nicht gerade jetzt?
Viacheslav Gromov ist Unternehmer und Gründer der AITAD GmbH.
Prof. Dr. Patrick Glauner arbeitet als Professor für Künstliche Intelligenz an der TH Deggendorf.
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