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Digitalisierung & KI

Standpunkte Die Anbetung der Digitalisierung beenden

Entega-Chefin Marie-Luise Wolff
Entega-Chefin Marie-Luise Wolff Foto: Entega AG

Welche Menscheitsprobleme helfen uns Facebook, Amazon und Co zu lösen? Keine, ist die Energiewirtschaftsmanagerin Marie-Luise Wolff überzeugt. In einem Standpunkt zu ihrem aktuell erschienenen Buch spricht sie über ihre Enttäuschung trotz der Heilsversprechen der Digitalisierung und ihren Vorschlag für einen Reset.

von Marie-Luise Wolff

veröffentlicht am 04.09.2020

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Im katholischen Rheinland aufgewachsen, kannte ich mich mit Anbetungen von Anfang an aus. Religion und Glaube sind mir zwar nicht fremd geworden, aber von der kultigen Heiligenverehrung habe ich mich als Heranwachsende doch recht schnell emanzipiert. Die Ikonen von heute sind die Bildschirme unserer Smartphones und Laptops – alleine, die Emanzipation will uns nicht gelingen. Kaum je vergehen noch fünf Minuten, in denen wir nicht Mails checken, chatten oder Statusänderungen posten. Und es vergeht auch kein Tag mehr, an dem uns CEOs oder Politiker nicht mahnen, dass wir die Digitalisierung verschlafen und den Anschluss an die Weltwirtschaft verlieren.

Was hat Facebook je für uns getan?

Digitalisierung ist schon seit vielen Jahren der vermeintliche Sound der Zukunft: Das schnelle Rezept gegen alles Alte. Glamourös, für jeden da. 24/7 vereinfacht die Digitalisierung das Leben, gibt Orientierung, schafft Reichtum, ist Freund und Leader. Mit derlei Geschwätz werden wir von den Apologeten der schönen neuen Welt aus dem Silicon Valley und anderswo täglich zugedröhnt. Und vergessen dabei: Die Anbetung unserer Bildschirme bringt die Menschheit keinen Schritt weiter. Statt uns das Digitale zu Nutze zu machen, begeben wir uns immer mehr in eine Abhängigkeit von ihm und seinen Machern – einem Dutzend Unternehmen mit Weltmonopolen aus den USA und China.

Dabei leben wir in einer Zeit, in der die Probleme auf unserem Planeten immer größer und drängender werden. Gerade jetzt sind Wirtschaft und Politik gefordert wie kaum je zuvor, Lösungsstrategien für die großen Menschheitsfragen zu entwickeln. Doch Facebook und Alibaba bekämpfen Covid-19 nicht. Sie entwickeln kein Medikament und keinen Impfstoff. Tesla löst die sich verschärfende Klimakrise nicht. Und Amazon unternimmt nichts gegen die Vermüllung und Überfischung der Weltmeere.

Digitalisierung gaukelt „Friede, Freude und Eierkuchen“ vor

Zu Beginn der 2010er Jahren habe auch ich der Digitalisierung geradezu reformatorische Kraft zugetraut. Zu verführerisch klangen ihre vermeintlichen Möglichkeiten: Weniger Bürokratie, weniger Hierarchie, weniger Patriarchat. Mehr Demokratie, mehr Teilhabe, mehr Fortschritt. Zehn Jahre später ist die Bilanz für mich ernüchternd – mehr noch: Die Fehlentwicklungen überwiegen. Heute spreche ich der Digitalisierung eine Gewinnwarnung aus. Wir müssen als Gesellschaft und als Wirtschaft umsteuern, unsere Haltung zur Digitalisierung und unseren Umgang mit ihr verändern.

Hören wir auf, unsere eigene Zeit und die unserer Mitmenschen zu verschwenden, in dem wir uns in Gesprächen ständig vom Vibrieren, Piepsen, Nachrichtenkonsumieren oder Tippen ablenken lassen. Trauen wir uns wieder echte Debatten und Dispute zu, statt uns gegenseitig mit hingeworfenen 120-Zeichen-Häppchen zu provozieren und beleidigen. Begegnen wir uns wieder im analogen Leben und interessieren wir uns wieder wirklich füreinander, statt uns mit Hochglanz-Urlaubsfotos „Friede, Freude und Eierkuchen“ vorzugaukeln.

Welche Konsequenzen die Wirtschaft ziehen sollte

Und werden wir als Unternehmen in Deutschland und Europa wieder selbstbewusster. Entwickeln wir wieder Technologien und Produkte, die wirklich innovativ sind, unsere Gesellschaften voranbringen, dem Gemeinwohl dienen und ökologische wie soziale Probleme lösen. Laufen wir nicht denen hinterher, deren eigene Börsenkurse ihr wichtigstes Anliegen sind und die uns deshalb mit immer neuem Spielkram überschwemmen, den wir eigentlich nicht brauchen.

Glauben wir denn, dass es wirklich sinnvoll ist, rund um die Uhr Nachrichten miteinander auszutauschen, den Datensammlern zu vertrauen oder die Auswahl unseres Urlaubsortes und gar unserer Lebenspartner Algorithmen zu überlassen? Brauchen wir einen Messenger, der gleichzeitig unsere Konsumwünsche kennt, unsere Nachrichtenbedürfnisse befriedigt, unsere Korrespondenz und Bankgeschäfte erledigt? Wollen wir uns wirklich in derlei Abhängigkeiten begeben, die wir schon bald gar nicht mehr durchschauen?

Und sind wir ernsthaft der Meinung, dass eine Marsmission auch nur ein einziges Menschheitsproblem bekämpft? Dass superschnelle, milliardenteure Magnetröhren unsere Mobilitätsprobleme lösen? Oder die 24/7 Bereitstellung sämtlicher Güter und Lebensmittel auf Dauer ohne soziale Verwerfungen und die Verödung unserer Innenstädte bleiben kann? Diesen dysfunktionalen Auswüchsen des Kapitalismus sollten wir uns in Europa schnell und entschieden entgegenstellen.

Rückkehr zum Analogen als Ausweg

Digitalisierung kann immer nur Mittel zum Zweck, nicht der Zweck selbst sein. Sie muss geführt werden, damit sie gut wird und uns hilft. Technologie darf nicht uns Menschen treiben. Den Profiteuren der digitalen Technologien und sozialen Medien wurde viel zu lange nicht Einhalt geboten. Unreguliert haben ihre Algorithmen es schon heute geschafft, uns in unseren fundamentalsten menschlichen Eigenschaften zurückzuentwickeln. Einschränkungen in der Konzentrations- und Denkfähigkeit, Rückbildungen in Sprache, Kommunikation, psychischer Widerstandsfähigkeit und Empathie sind bereits messbare Resultate dieser Fehlentwicklung. Dagegen müssen wir uns als Gesellschaft wehren. Es ist Zeit für die Rückkehr zu echtem, analogen menschlichen Miteinander.

Digitalen Heilsversprechen und immer neuem Internet-Spielzeug müssen wir als Unternehmen mit echten Problemlösungen etwas entgegensetzen. Nicht Digitalisierung ist das Ziel, sondern die Beseitigung von Menschheitsproblemen unter Zuhilfenahme von Digitalisierung. Es ist Zeit für die Neuentdeckung der Realwirtschaft.

Marie-Luise Wolff leitet als Vorstandsvorsitzende die Entega AG, einen der größten Ökostromanbieter Deutschlands. Außerdem ist sie seit 2018 Präsidentin des Bundesverbandes der Deutschen Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW). Am 31. August erschien im „Westend Verlag“ ihr Buch „Die Anbetung. Über eine Superideologie namens Digitalisierung“.

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