Auswertungen etwa der G20 und der EU bestätigen regelmäßig, dass Deutschland bei der Digitalisierung immer weiter ins Hintertreffen gerät. Während andere Nationen die digitale Transformation als Chance begreifen und gezielt vorantreiben, verlieren wir kostbare Zeit. Die Folgen sind gravierend: Unternehmen büßen ihre Wettbewerbsfähigkeit ein, der öffentliche Sektor droht angesichts der bevorstehenden Pensionierungswelle teilweise zu kollabieren, und junge Generation sehen sich ihrer Zukunftschancen beraubt.
Die Gründe für den digitalen Rückstand sind vielfältig, und werden auch im laufenden Bundestagswahlkampf teilweise adressiert. So wird etwa ein Bundesdigitalministerium gefordert, der Ausbau des Breitband- sowie 5G-Netzes versprochen, und auch die Digitalisierung der Verwaltung findet sich in fast allen Wahlprogrammen. Doch steht dies alles schon seit langem auf der politischen Agenda, ohne dass der nötige Ruck durch Staat und Politik gegangen wäre. Immer noch finden die meisten staatlichen Dienstleistungen nur analog statt, immer noch hat man auf dem Land viel zu oft keinen adäquaten Mobilfunkempfang und immer noch verhindert die ausgebliebene Digitalisierung im Energienetz eine flexible Netzsteuerung, die auch bei „Dunkelflauten“ die jüngst wieder zu beobachtende Explosion der Energiepreise ausschließt.
Dass das Megathema Digitalisierung in der Politik nur punktuell adressiert und dann häufig nicht konsequent umgesetzt wird, könnte auch daran liegen, dass das Grundgesetz, als Grundlage unseres Staates, bis heute weitestgehend dem analogen Zeitalter verhaftet geblieben ist. Um die zentrale Zukunftsfrage der Digitalisierung unabhängig von kurzfristigen politischen Strömungen zum Grundthema der Politik zu machen, schlagen wir daher die Aufnahme eines Staatsziels Digitalisierung ins Grundgesetz vor. Ein neuer Art. 20b GG könnte entscheidend dazu beitragen, dass der Staat die Entwicklung und den Ausbau digitaler Infrastruktur sowie den Zugang aller Menschen zu digitalen Technologien und Diensten endlich nachhaltig fördert und die verantwortungsvolle Teilhabe an der Digitalisierung sowie den Schutz der digitalen Dimension der Grundrechte gewährleistet.
Kritiker mögen einwenden, eine Verfassungsänderung allein bewirke noch keine Digitalisierung. Schließlich wird, wie gesagt, seit Jahren über die Notwendigkeit der digitalen Transformation gesprochen, ohne dass sich Wesentliches bewegt hätte. Doch genau hier liegt der entscheidende Punkt: Solange die Digitalisierung eher Gegenstand politischer Sonntagsreden ist, fehlt der notwendige Handlungsdruck. Eine Verankerung im Grundgesetz würde den Staat dagegen erstmals objektiv verpflichten, den digitalen Wandel endlich systematisch und nachhaltig voranzutreiben – unabhängig von politischen Mehrheiten und Haushaltslagen. Die Erfahrung mit dem nachträglich in das Grundgesetz eingefügten Umweltstaatsziel in Art. 20a GG zeigt: Staatszielbestimmungen entfalten entgegen allen Unkenrufen effektive Verpflichtungswirkung, wie nicht zuletzt der wegweisende Klimabeschluss des Bundesverfassungsgerichts von 2021 (1 BvR 2656/18) demonstriert.
Unser Vorschlag für ein neues Staatsziel würde die staatlichen Entscheidungsträger vor diesem Hintergrund verpflichten, den Stand der Digitalisierung laufend zu überprüfen und sodann die nötigen Maßnahmen zu treffen, um im Interesse heutiger und zukünftiger Generationen Lücken zu schließen und Chancen zu realisieren: vom Ausbau der digitalen Infrastruktur über die Förderung digitaler Kompetenzen bis hin zur Gewährleistung digitaler Teilhabe. Konkret müsste der Staat zunächst vor allem den flächendeckenden Ausbau digitaler Netze in den Blick nehmen – auch und gerade in strukturschwachen Regionen. Die Schließung der digitalen Kluft zwischen Stadt und Land böte zugleich ländlichen Regionen erstmals in der Geschichte einzigartige Entwicklungschancen.
Doch es geht um mehr als nur Glasfaserkabel und 5G-Netze. Die Digitalisierung durchdringt heute nahezu jeden Lebensbereich. Ohne adäquaten Zugang zur digitalen Welt können Menschen zentrale Grundrechte wie die Meinungs- und Informationsfreiheit oder die Berufsfreiheit bereits heute vielfach nicht mehr angemessen wahrnehmen. Das neue Staatsziel würde den Staat daher dazu verpflichten, allen Bürgerinnen und Bürgern, und auch allen Staatsbediensteten, die notwendigen Kompetenzen für eine verantwortungsvolle digitale Teilhabe zu vermitteln. Nur so kann Deutschland langfristig wettbewerbsfähig bleiben.
Dies ist besonders dringlich angesichts der rasanten Entwicklung Künstlicher Intelligenz, die eine zunehmend große Rolle im täglichen Leben spielt. Wer heute nicht digital mündig ist, droht nicht nur in der Arbeitswelt, sondern auch gesellschaftlich abgehängt zu werden. Zugleich zeigen aktuelle Entwicklungen wie die brandgefährliche Manipulation demokratischer Prozesse durch digitale Desinformation, dass digitale Bildung und digitale Resilienz auch für den Erhalt unserer Demokratie essenziell sind – das gilt nicht nur für die Bürgerinnen und Bürger, sondern gerade für die staatlichen Institutionen.
Die von uns vorgeschlagene Staatszielbestimmung würde den Staat daher auch verpflichten, endlich die längst überfällige Digitalisierung der Verwaltung und der Gerichte voranzutreiben. Angesichts des demografischen Wandels und der damit verbundenen Personalengpässe im öffentlichen Dienst ist dies inzwischen nicht mehr nur eine Frage der Bürgerfreundlichkeit, sondern der staatlichen Handlungsfähigkeit. Diese Handlungsfähigkeit beinhaltet auch die zuletzt wieder überdeutlich gewordene Notwendigkeit, den Staat vor digitalen Angriffen zu schützen.
Wichtig ist uns bei alledem: Das neue Staatsziel zielt nicht auf eine Zwangsdigitalisierung. Weiterhin muss auch eine analoge Teilhabe am gesellschaftlichen Leben möglich bleiben. Uns geht es vielmehr darum, endlich allen Menschen, die dies wünschen, die Chance zu eröffnen, umfassend an den unglaublichen Möglichkeiten der Digitalisierung teilzunehmen – und zwar verantwortungsvoll und selbstbestimmt.
Die Bundestagswahl am 23. Februar 2025 bietet die Gelegenheit, die Weichen für Deutschlands digitale Zukunft richtig zu stellen. Die Aufnahme der Digitalisierung ins Grundgesetz wäre ein kraftvolles Signal, dass wir den digitalen Wandel endlich als das begreifen, was er ist: eine zentrale Zukunftsfrage, von deren Bewältigung der Wohlstand vor allem kommender Generationen abhängt. Selbstverständlich muss das Staatsziel durch diverse operative Maßnahmen, wie etwa die Einführung eines Bundesdigitalministeriums und adäquate Budgets für Digitalisierungsprojekte, umgesetzt und konkretisiert werden. Um Worte des ehemaligen Bundespräsidenten Roman Herzog aufzugreifen, muss endlich ein Ruck durch Deutschland gehen. Und dazu, dass es im Bereich der Digitalisierung nicht beim Ruck bleibt, könnte ein Staatsziel Digitalisierung entscheidend beitragen.
Prof. Dr. Dr. Martin Will ist Inhaber des Lehrstuhls für Staatsrecht an der EBS Universität für Wirtschaft und Recht; Dr. Benedikt Quarch ist Jurist und gründete u.a. das LegalTech-Unternehmen RightNow. Das diesem Beitrag zugrunde liegende White Paper zur Einführung des Staatsziels Digitalisierung im Grundgesetz haben die Autoren Anfang Januar 2025 gemeinsam mit dem Startup-Verband veröffentlicht.