Standpunkte Digitaler Kolonialismus: Wie große Techkonzerne neue Formen der Abhängigkeit vom Westen schaffen
Kaum eine Geschichte wird so oft erzählt wie die vom unaufhaltsamen Aufstieg der Tech-Konzerne an die Spitze der global vernetzten Welt. Nur ein Kapitel wird dabei ausgelassen: Der Preis, den der globale Süden dafür bezahlt.
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Jetzt kostenfrei testenRevolution. Wohl kaum ein Wort wird in Bezug auf die Digitalisierung so inflationär verwendet wie dieses. Fragt man ChatGPT, wem wir die „digitale Revolution“ zu verdanken haben, listet der Chatbot die Namen einiger Männer aus Europa und den USA auf. Etwa Tim Berners-Lee, den „Erfinder des World Wide Web“ und Linus Torvalds, den „Schöpfer“ des Betriebssystems Linux. Außerdem Bill Gates, Steve Jobs und Gordon Moore, die Mitgründer der einflussreichen Tech-Konzerne Microsoft, Apple und Intel. Allerdings, so räumt der Chatbot ein, könne er unmöglich alle Menschen aufzählen, denen wir den digitalen Fortschritt zu verdanken haben.
Es braucht wenig Fantasie, um sich auszumalen, welche Namen das Programm noch nennen würde. Da wäre zum Beispiel Mark Zuckerberg, der Gründer von Facebook und Chef des größten Social-Media-Konzerns der Welt. Sergey Brin und Larry Page dürfen nicht fehlen, die genialen Stanford-Studenten, die mit Google die wichtigste Suchmaschine der Welt erfanden und heute den meistgenutzten Browser, den meistgenutzten E-Mail-Dienst, das meistgenutzte Navigationsprogramm und Smartphone-Betriebssystem anbieten. Vergessen wir auch nicht Jeff Bezos und Elon Musk, die mit ihren Unternehmen Amazon und Tesla den Einzelhandel und die Elektromobilität „revolutionierten“. ChatGPT gibt die Infos wieder, mit denen es gefüttert wurde.
Und die Erzählungen, die wir uns seit drei Jahrzehnten über die Digitalisierung anhören müssen, sie klingen nun mal fast immer gleich: Zu verdanken haben wir den digitalen Fortschritt genialen Informatikern und gewieften Unternehmern, die in ihren Forschungslaboren, Garagen und Studentenzimmern – manchmal in Europa, meistens in den USA – Dinge erfanden, die unsere Welt auf den Kopf stellten. Die uns Computer und Betriebssysteme, Smartphones, soziale Medien und Shopping-Plattformen brachten. Es geht in diesen Erzählungen um die „Revolution des Cloud-Computing“, um die „vierte industrielle Revolution“ und, na klar: um die „KI-Revolution“, die seit der Veröffentlichung von ChatGPT Ende 2022 in aller Munde ist.
KI-Training im Globalen Süden
Kein Platz ist in den Erfolgsgeschichten des Silicon Valley für die Menschen, die mit ihrer Arbeit dazu beigetragen haben, dass ein Programm wie ChatGPT überhaupt funktionieren kann: die outgesourceten Arbeitskräfte, die in Ländern des Globalen Südens Künstliche Intelligenz trainieren und soziale Medien moderieren. Es ist auch kein Platz für Menschen, die in der Demokratischen Republik Kongo in Minen schuften und Kobalt abbauen, das für die materielle Basis der Digitalisierung derzeit unverzichtbar ist. Für all diejenigen, die als Datenlieferanten und Versuchsobjekte dienen, um die Produkte der Tech-Konzerne zu verbessern. Und noch etwas fehlt in den gängigen Erzählungen von der digitalen Revolution: eine Erklärung, was eigentlich genau mit dem Begriff gemeint ist. So oft haben wir die großen Versprechen vom digitalen Fortschritt durch Digitalisierung gehört – von Befreiung, Nachhaltigkeit und Wohlstand für alle – , dass viele sie nicht mehr hinterfragen.
Doch nicht alles, was Veränderung bringt, ist eine Revolution. Oder hat die Digitalisierung der Welt etwa Freiheit, Gleichheit und Solidarität gebracht? Die Zahlen sprechen eine andere Sprache. Weltweit sind Freiheit, Menschenrechte und Demokratie auf dem Rückzug. Im Jahr 2024 hatten nur noch 14 Prozent aller Menschen die Möglichkeit, ungehindert ihre Meinung zu sagen, sich zu versammeln und gegen Missstände anzukämpfen. Zwei Drittel der Menschheit lebten in Staaten mit unterdrückter oder geschlossener Zivilgesellschaft, konstatiert der jährliche Atlas der Zivilgesellschaft von Brot für die Welt. Zugleich ist die Digitalisierung verbunden mit dem Aufstieg einer neuen Klasse von Herrschern, die mithilfe von Daten, Künstlicher Intelligenz und digitalen Diensten globale Imperien errichten. Mit dem Siegeszug des Internets haben sie sich an die Spitze der Weltwirtschaft Einleitung: Des Kolonialismus neue Kleider gesetzt.
Digitaler Kolonialismus
Längst sind Alphabet, Amazon, Apple, Meta und Microsoft, die sogenannten Big Five des Silicon Valley, die wertvollsten Unternehmen der Welt. Zusammen mit dem Chiphersteller Nvidia kommen sie Mitte 2024 auf einen Marktwert von 13,5 Billionen Euro. Die Entscheidungen, die die Tech-Herrscher in ihren Unternehmenszentralen treffen, haben Folgen für das Wohl von Milliarden Menschen, für die Stabilität von Staaten und den Zustand der Demokratie. Es ist eine Verantwortung, der sie nicht gerecht werden, was insbesondere die Menschen im Globalen Süden zu spüren bekommen. Tatsächlich müssen wir erkennen, dass die Digitalisierung sich als erstaunliches Instrument erwiesen hat, um eine Machtordnung fortzuschreiben, die mehr als 500 Jahre alt ist: die des Kolonialismus. Seit vielen Jahren weisen Forscher:innen, Aktivist:innen und Künstler:innen aus dem Globalen Süden darauf hin, dass die Eroberungszüge der Tech-Konzerne kolonialen Mustern folgen und diese mit neuen Mitteln fortsetzen. Unser Buch folgt diesen anderen Erzählungen der Digitalisierung. Statt um Revolution geht es darin um Ausbeutung, um Herrschaft und Unterdrückung. Es ist die Geschichte eines neuen Kolonialismus, der auf den Spuren des alten wandelt: die des digitalen Kolonialismus.
Der erste Präsident Ghanas, Kwame Nkrumah, prägte hierfür bereits 1966 – also keine zehn Jahre nach der Unabhängigkeit des Landes – das Wort „Neo-Kolonialismus“. Diesen analysiert Nkrumah in seinem gleichnamigen Buch als „letzte Stufe des Imperialismus“: Die gerade unabhängig gewordenen Staaten Afrikas seien zwar formal souverän, aber in ihren Handlungsmöglichkeiten so eingeschränkt, dass de facto eine Fortsetzung des Kolonialismus mit anderen Mitteln vorliege. Denn die europäischen Kolonialherren hinterließen Staaten, die mit den Folgen willkürlich gezogener Grenzen – zwischen Ländern, aber auch zwischen Menschen – zu kämpfen hatten. Staaten, die oft kaum die Möglichkeit hatten, eine Industrie im eigenen Land aufzubauen. Deren Wirtschaft primär auf die Bedürfnisse der Metropolen in Europa ausgerichtet war, auf den Export von Rohstoffen und den Import von Industrieprodukten. Immer wieder kam es in den ehemaligen Kolonien zu militärischen Interventionen von imperialen Großmächten wie den USA und der Sowjetunion, aber auch von europäischen Staaten wie Frankreich und dem Vereinigten Königreich, die – teils offen, teils verdeckt – mal jenen Regierungschef unterstützten und mal zum Sturz eines anderen beitrugen. Es ist die Fortführung dieser Machtverhältnisse und dieser globalen Wirtschaftsordnung, die auch den digitalen Kolonialismus unserer Zeit ermöglicht. Die Digitalisierung kommt als immaterieller, körperloser Prozess daher, doch sie beruht oft auf materiellen Abhängigkeits- und Ausbeutungsverhältnissen.
Statt physisches Land einzunehmen, erobern die neuen Kolonialherren den digitalen Raum. Statt nach Gold und Diamanten lassen sie unter menschenunwürdigen Bedingungen nach Rohstoffen graben, die wir für unsere Smartphones benötigen. Statt von roher Gewalt profitieren sie von Überwachung. Statt Sklaven beschäftigten sie Heere von unsichtbar gemachten Arbeiter:innen, die zu Niedriglöhnen in digitalen Fabriken schuften, um soziale Netzwerke sauber oder vermeintlich Künstliche Intelligenz am Laufen zu halten.
Ingo Dachwitz ist Journalist und Kommunikationswissenschaftler. Seit 2016 arbeitet er als Redakteur bei netzpolitik.org. 2024 wurde er mit dem Alternativen Medienpreis und zwei Grimme-Online-Awards ausgezeichnet.
Sven Hilbig ist Jurist und bei Brot für die Welt zuständig für Digitalisierung und Handelspolitik. Zuvor arbeitete er bei der Heinrich-Böll-Stiftung und der Menschenrechtsorganisation Global Justice in Rio de Janeiro.
Der Standpunkt ist ein Auszug aus dem Buch „Digitaler Kolonialismus“, das vor wenigen Wochen beim Verlag C.H. Beck erschienen ist.
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