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Digitalisierung & KI

Mobilitätsdienstleistungen „Die Kartendienste haben großen Einfluss auf Städte“

Johannes Schöning
Professor Johannes Schöning forscht an der Universität Bremen an der Interaktion zwischen Mensch und Technik. Er hat in mehreren Studien erstmals systematisch geprüft, welche Wirkungen Navigationsanwendungen auf Städte haben. Foto: Privat

„Stadtplaner sind manchmal entsetzt, wenn man ihnen zeigt, welche Wege die Algorithmen vorschlagen“, sagt Johannes Schöning von der Universität Bremen im Interview. Er kritisiert, dass die digitalen Kartendienste von der realen Welt entkoppelte Entscheidungen treffen und fordert eine gesellschaftliche Debatte.

Jutta Maier

von Jutta Maier

veröffentlicht am 13.08.2020

aktualisiert am 27.08.2020

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Herr Schöning, welche Navigationsdienste nutzen Sie?

Oftmals gar keine. Ich vertraue auf meine kognitiven Fähigkeiten und fahre oft ohne Navigation. Ich schaue mir höchstens mal vor der Fahrt auf Google Maps den Weg zu einem Konferenzhotel an. Ansonsten nutze ich sehr gerne traditionelle Karten aus Papier.

Darf man fragen, wie alt Sie sind?

Ich bin 37 – ich weiß, das ist wohl sehr untypisch für mein Alter. Aber als Informatiker finde ich papierne Karten einfach wundervoll und habe ein großes Interesse daran, dass es sie auch weiterhin gibt.

Sie haben in mehreren Studien verschiedene Navigationsanwendungen auf ihre gesellschaftlichen Auswirkungen hin untersucht. Welche waren das?

In der ersten Studie haben wir verglichen, welche Routen Kartendienste wie Google Maps, MapQuest und GraphHopper vorschlagen, wenn man von A nach B möchte. GraphHopper beruht auf dem offenen Kartendienst OpenStreetMap, der wie Wikipedia funktioniert – jeder kann dort Kartendaten annotieren und verändern. Wir haben uns angeschaut, wie lang die Routen sind, wie viele Abbiegevorgänge sie haben und durch welche Stadtgebiete sie führen. Dann haben wir auch untersucht, wie sich alternative Routing-Ansätze von standardisierten Ansätzen unterscheiden. Also nicht nur den schnellsten Weg angeschaut, sondern auch den schönsten, den sichersten und den einfachsten.

Was waren die wichtigsten Erkenntnisse?

Uns ist aufgefallen, dass die Anbieter alle verschiedene Routen für den „schnellsten Weg“ generieren. Zum Beispiel nimmt der Marktführer Google Maps oftmals nicht den „schnellsten Weg“, sondern optimiert auch dahingehend, die Nutzer möglichst lange auf Autobahnen oder der höchsten Straßenkategorie zu belassen. Dafür werden auch leichte Umwege in Kauf genommen. Google hat den Algorithmus also geändert, ohne dass wir wirklich wissen, nach welchen Kriterien. Die Software-Hersteller könnten den Dienst theoretisch von einem auf den anderen Tag auf ein beliebiges Kriterium umstellen, ohne dass dies für die Nutzer transparent wäre. Dabei kann das große Auswirkungen haben auf uns als Individuen als auch auf die Städte und den Verkehrsfluss – das haben wir mit unseren Simulationen durchgespielt.

Kommen alternative Kriterien wie Sicherheit bei den Standard-Navigationsdiensten noch zu kurz?

Nicht unbedingt. Solche Aspekte werden sicherlich wichtiger, gerade auch mit dem autonomen Fahren. Die Navi-App Waze, die zu Google gehört, hatte zum Beispiel während der Olympischen Spiele in Rio ein Sicherheits-Routing angeboten, um Touristen und Sportler um „gefährliche“ Gebiete wie die Favelas herumzuleiten. Solche alternativen Routing-Optionen haben Potenzial, wir sollten aber über die Auswirkungen diskutieren. Denn wenn ich Verkehr von bereits wirtschaftlich schwachen Gebieten weg leite, nehme ich den verbliebenen Geschäften die Kunden weg und verstärke die negativen Effekte gegebenenfalls noch. 

Die Individualisierung von Produkten und Dienstleistungen ist ein Megatrend. Wird es nicht die Zukunft sein, dass man sein persönliches Routing auswählt, je nachdem, was man gerade braucht?

Das ist durchaus vorstellbar: Im Urlaub wähle ich die schönste Route, zur Arbeit die schnellste. Und wenn ich mich in einem fremden Land bewege, wähle ich die einfachste, mit möglichst wenigen Abbiegevorgängen. Allerdings gibt es schon viele Berichte im Netz à la „How Google turned my neighbourhood in a nightmare“, die zeigen, was passieren kann, wenn viele auf der vermeintlich schnellsten Route dann durch ein Wohngebiet fahren. Für den Einzelnen ist das vielleicht praktisch, für die Städte- und Verkehrsplaner und die Community ist es nicht so toll. Nehmen wir mal an, dass im Jahr 2050 etwa 80 Prozent des Verkehrs autonom sind – und dann bringt mich ein Algorithmus von A nach B, der von Google, Apple, Tesla oder VW programmiert wird. Die Konzerne können dadurch einen großen Einfluss auf unsere Städte nehmen. Da sollten wir uns als Zivilgesellschaft nicht die Butter vom Brot nehmen lassen und sehr genau auf die Algorithmen schauen.

Braucht es eine Ethikkommission wie beim autonomen Fahren?

Das glaube ich nicht. Aber worüber ich mich freuen würde wäre, wenn sich Städte, Verkehrsplaner und Zivilgesellschaft mit den Unternehmen an einen Tisch setzen könnten, um zu diskutieren, wie die Algorithmen den Verkehr – sei es Autoverkehr, Fußgänger oder Radfahrer – künftig durch unsere Städte leiten. Denn Stadtplaner sind manchmal entsetzt, wenn man ihnen zeigt, welche Wege die Algorithmen vorschlagen. Meine Kritik ist, dass die digitalen Kartendienste über unserer realen Welt liegen und davon entkoppelte Entscheidungen treffen.

Wie ließe sich dieser Konflikt auflösen?

Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder man behebt das Problem in der „realen Welt“ und sperrt zum Beispiel eine Straße für den Durchgangsverkehr. Ich denke die bessere Möglichkeit ist aber, die Anpassungen in der „digitalen Welt“ vorzunehmen und die Algorithmen darauf zu trainieren, etwa eine Umleitung nicht durch Wohngebiete zu führen. Letztlich müssen aber beide Welten voneinander „wissen“ – sonst macht man den Verkehr durch Navigationsapps nicht besser, sondern schlimmer. Uns sollte auch klar sein, dass es den Anbietern relativ egal ist, wie der Verkehr in Berlin oder Bremen durch ihre Apps beeinflusst wird. Den Unternehmen geht es darum, ein Produkt zu schaffen, das möglichst global funktioniert.

Sehen Sie die Gefahr, dass kommerzielle Anbieter Einfluss auf die Navigation nehmen könnten, um beispielsweise Kunden in ihre Geschäfte zu locken? 

Es ist eine ungeheure Macht, die in diesen Algorithmen steckt. Wenn ich den Verkehr leite, kann ich viel in den Städten verändern: Kaufkraft und Immobilienpreise lenken zum Beispiel – das unterschätzen viele. Google Maps ist letztlich eine Dienstleistung, mit der Google Geld verdienen möchte, was ich natürlich legitim finde. Das funktioniert jetzt schon, indem die Kartendarstellung auf den Nutzer personalisiert wird und Marker von bestimmten Geschäften hervorgehoben werden. Es wäre denkbar, dass man auch bei der Navigation an zwei, drei Geschäften vorbei geleitet wird, um einen Kauf zu triggern. 

Gibt es bei den Technologiekonzernen ein Bewusstsein dafür, welche Auswirkungen ihre Kartendienste auf Städte und Gesellschaft haben?

Inwieweit verantwortlich damit in der Unternehmensführung umgegangen wird, kann ich als Wissenschaftler von außen nicht beurteilen. Generell sehe ich bei den Belegschaften der großen Tech-Riesen durchaus einen kritischen Diskurs. Außerdem hoffe ich, dass wir unseren Studierenden genug kritisches Denken mitgeben, sodass sie beim technologischen Fortschritt prüfen, ob die Vorteile die Nachteile überwiegen. Und die Vorteile überwiegen bei Navi-Anwendungen ja definitiv.

Ist aus Ihrer Sicht auch eine gesetzliche Regulierung notwendig?

Ja, ich denke es ist notwendig, einen gesetzlichen Rahmen vorzugeben, in dem die Algorithmen arbeiten dürfen. Dies ist natürlich nicht nur für Navigationsanwendungen sinnvoll. Algorithmen dürfen keine Barrieren oder Schneisen in der Gesellschaft aufbauen. Ich wäre zum Beispiel auch dafür, automatische Gesichtserkennung streng zu regulieren oder teilweise sogar zu verbieten.

Sowohl in der Stadtplanung als auch in den Technologiekonzernen ist es häufig noch so, dass vor allem Männer für Männer planen. Die Bedürfnisse von Frauen – zum Beispiel der beste Weg, um mit Einkäufen, Kindern oder älteren Menschen ans Ziel zu kommen – werden noch wenig berücksichtigt. Müssten die Teams nicht viel diverser werden?

Je mehr Sichtweisen Gehör finden, desto besser wird die Lösung für alle. Oftmals sind wir da in unseren Teams noch zu eingeschränkt. Ein Post-Doc von mir, der selbst auf den Rollstuhl angewiesen ist, hat zum Beispiel verschiedene Fußgänger-Navigationsalgorithmen verglichen um zu ermitteln, wie viel Strecke er als Rollstuhlfahrer mehr zurücklegen muss. Da kam einiges zusammen. Dabei nutzen breite Gehwege, die eben sind, nicht nur Rollstuhlfahrern und jungen Eltern, sondern gerade jetzt uns allen, weil wir gut Abstand halten können. Solche Erkenntnisse können wir dafür nutzen, um unsere Städte so zu gestalten, wie wir sie alle gerne haben möchten.

Das Interview führte Jutta Maier.

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