Stellen Sie sich bitte vor: Haus der Bundespressekonferenz, Dezember 2030. Die fünf Wirtschaftsweisen stellen ihr Jahresgutachten vor. Boomer gehen weiter scharenweise in Rente, aber der Arbeitskräftemangel jenseits der demografischen Abbruchkante ist doch kein so großes Problem wie in früheren Gutachten vorhergesagt.
Denn die Arbeitsproduktivität, so stellen die Wirtschaftsweisen leicht verblüfft fest, wächst deutlich schneller als von ihnen prognostiziert. In den Unternehmen übernehmen KI-Agenten jetzt viele Routineaufgaben, die früher den halben Arbeitstag von Mitarbeiter:innen raubten. Kein Sachbearbeiter muss mehr händisch Daten in der SAP-Maske nachbearbeiten, weil die Umsatzsteuer in der falschen Zeile eingetragen wurde.
Die Roboterquote in der Produktion ist radikal gestiegen, besonders die von Cobots, die Hand in Hand mit Menschen arbeiten und ihnen dabei vor allem die schweren körperlichen Arbeiten abnehmen. Chatbots treiben Kunden nicht mehr in den Wahnsinn, sondern helfen tatsächlich, Probleme zu lösen. Und es gibt seit 2029 sogar eine KI im Enterprise-Resource-Planning-System, die mit dem Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz zurechtkommt.
An den Schulen tauchen die Schüler:innen in digitale 3D-Welten ein, in denen das Lernen so viel Spaß macht wie früher nur mit Computerspielen. Die Mathe- und Sprachlernapps erhöhen das individuelle Lerntempo. Das Problem der Computerspielsucht ist dank gamifizierter Lernwelten konstruktiv abgewendet worden.
Lehrer:innen haben dank der Robo-Teacher viel mehr Zeit für die Arbeit in Kleingruppen. In Arztpraxen und Krankenhäusern unterstützt Künstliche Intelligenz die Ärztinnen und Ärzte bei besseren Diagnose- und Therapieentscheidungen. Sie ersparen den Patienten teure Odysseen, bei denen sie von Arzt zu Arzt rennen. Den Patienten ersparen sie Therapien, die bestenfalls nichts nützen und im schlimmsten Fall sogar schaden.
Und bei Staat und Verwaltung? Nach wie vor ist nicht alles Gold, was auf den Webseiten von Bund, Ländern und Kommunen glänzt. Aber immerhin können jetzt nahezu alle wichtigen Verwaltungsvorgänge von Bürgerinnen und Bürgern von der Couch aus gesteuert werden: von der Ummeldung des Wohnsitzes bis zur Beantragung des Elterngeldes. Alle Auflagen des Baurechts zu erfüllen ist zwar weiter eine Herkulesaufgabe, aber immerhin lotst jetzt ein KI-Assistent durch das Dickicht der Vorschriften – und das wiederum funktioniert erstaunlich gut. Die passenden Formulare bieten die KI-Bots sogar ohne Nachfrage an. Auch geben sie Hinweise, worauf Bürger:innen noch achten sollten, getreu dem Onlinemotto: Wer diesen Verwaltungsvorgang genutzt hat, dürfte sich auch für diese Leistung interessieren.
Technikpessimismus
Es ist nicht schwer, sich eine gute Zukunft mit KI vorzustellen. Eigentlich schreibt sich ein optimistisches Szenario für den Beginn des nächsten Jahrzehnts wie von selbst – ein Szenario, in dem KI-Systeme unser Arbeitsleben leichter und produktiver machen, Lernende aller Alters- und Qualifikationsstufen besser und mit mehr Spaß lernen, in dem KI uns hilft, gesünder zu leben, den medizinischen Fortschritt vorantreibt und zugleich das Gesundheitssystem bezahlbar hält. In diesem optimistischen Ausblick erscheint es sogar plausibel, dass Staat und Verwaltung ihren digitalen IQ dank Künstlicher Intelligenz endlich erhöhen. Dafür braucht die Erzählung keine Science-Fiction-Elemente. Ein Blick auf erprobte und verfügbare KI-Anwendungen reicht vollkommen aus, um dieses optimistische Zukunftsbild als greifbares Szenario zu zeichnen. Doch an dieses Bild glauben heute nur wenige.
Eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Civey im Auftrag von „Das Progressive Zentrum“ mit 5.000 Befragten hat ergeben: Deutschland schaut zutiefst pessimistisch auf die eigene KI-Zukunft. Weniger als ein Viertel der Teilnehmer:innen erwartet, dass Künstliche Intelligenz ihr Leben unter dem Strich verbessert. Mehr als 70 Prozent sind davon überzeugt, dass Schülerinnen und Schüler mit KI nicht besser lernen werden. Nur rund 20 Prozent möchten, dass ihr Arzt Rat bei KI-Systemen sucht. Dass etwas mehr als ein Drittel der Befragten der deutschen Verwaltung zutraut, durch KI effizienter zu werden, wirkt bei diesem raumgreifenden KI-Pessimismus fast schon wie ein Hoffnungsschimmer. Aber vermutlich ist hier das niedrige Niveau digitaler Verwaltung in Deutschland mitbedacht, von dem aus der Weg der Besserung startet.
Wie gesund ist Skepsis?
Skepsis ist eine Tugend der Aufklärung und der Wissenschaft. Die kritische Reflexion ist ein Motor des technischen und des gesellschaftlichen Fortschritts. Doch ab welcher Dosis ist Skepsis ungesund? Pessimismus ist irrational – zumindest wenn das Ziel lautet, dass die Zukunft besser wird als Vergangenheit und Gegenwart. Denn Pessimismus hat die unschöne Eigenschaft, zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung zu werden. Weil Einzelne oder Kollektive nicht an eine bessere Zukunft glauben, versuchen sie erst gar nicht, diese zu gestalten. Oder konkret auf die Civey-Umfrage bezogen: Wenn sich eine Gesellschaft nicht zutraut, eine Zukunftstechnologie mit nachweislich großer Wirkmacht – positiver wie auch negativer – zum eigenen Vorteil einzusetzen, dann wird sie dies mit hoher Wahrscheinlichkeit auch nicht tun. Pessimismus ist mehr als Zeitverschwendung. Er befeuert eine negative Abwärtsspirale in die Lethargie.
Die positive Umkehrung dieser Negativlogik hat der Philosoph Ernst Bloch in seiner Formel von der „konstruktiven Kraft der konkreten Utopie“ verdichtet. Wenn Menschen eine konkrete Vorstellung davon entwickeln, wie eine gelingende Zukunft aussehen kann, finden sie auch die Gestaltungskraft, einen guten Teil der Utopie Realität werden zu lassen. Denn sie entwickeln im Sinne der positiven Psychologie mithilfe eines optimistischen Zukunftsbildes die nötige Energie, auf diese gute Zukunft hinzuarbeiten. Die große Skepsis gegenüber Künstlicher Intelligenz, die aus den Umfragedaten spricht, deutet vor allem auf eines hin: Deutschland hat bislang keine optimistische Zukunftserzählung mit KI gefunden. Das ist mehr als schade. Es ist Diebstahl an der eigenen Zukunft und damit irrational.
Künstliche Intelligenz ist eine technologische Großchance für sozialen Fortschritt. Es werden allerdings nur jene Individuen und Unternehmen, Gesellschaften und Staaten davon profitieren, die ihre digitalen Hausaufgaben machen und dann KI auf intelligente Weise einsetzen. Deutschland hat alle Voraussetzungen, KI so zu nutzen, dass sie allen nützt. Wir haben das Kapital und die Köpfe. Es liegt an uns, die Fortschrittsversprechen der Technologie einzulösen.
Der Soziologe Andreas Reckwitz betont in einem klugen Essay in „Die Zeit“, dass Zukunftserzählungen nur glaubwürdig bleiben, wenn sie ihre Versprechen auch schrittweise einlösen. KI-Systeme haben hier einen großen Vorteil: Ihr Nutzen für Wirtschaft, Bildung und Gesundheit und für den Staat ist in Etappen messbar. Fortschrittserzählungen mit Technologie können ihre Erfolge mit Daten beweisen. Wir müssen sie schreiben. Dann werden sie wahr.
Als KI-Experte denkt und schreibt Thomas Ramge an den Schnittstellen von Technologie, Ökonomie und Gesellschaft. Er hat 20 Sachbücher veröffentlicht, die in mehr als 20 Sprachen übersetzt wurden, darunter „Mensch und Maschine“, „Sprunginnovation“ (mit Rafael Laguna de la Vera) und „Das Digital“ (mit Viktor Mayer-Schönberger). Der folgende Gastbeitrag basiert auf dem Impulspapier „Wie sieht eine gute Zukunft mit KI aus? Eine Fortschrittserzählung“, das Thomas Ramge in Auftrag von Das Progressive Zentrum verfasst hat.