Im urbanen Leben stellt sich zumindest in Deutschland nach und nach eine neue Normalität ein. Aber was heißt das für die Smart City, also die Bemühung, unser Leben mit digitalen Anwendungen zu erleichtern und idealerweise zu verbessern?
In erster Näherung könnte man denken, die Smart City sei die perfekte Lösung auch in einer Welt der Pandemie, weil Digitalisierung in aller Regel mehr soziale Distanz mit sich bringt und damit aktiv auf die Pandemiebekämpfung einzahlt. So einfach und grundsätzlich auch richtig. Alles gut also und „weiter so!“ mit der Smart City?
Nein. Es zeichnet sich nämlich ab, dass Smart-City-Strategien in Zeichen der Pandemie andere Schwerpunkte ausprägen müssen und werden. Die Reflektion und Diskussion dazu hat gerade erst begonnen: Daher im Folgenden fünf (erste und vorläufige) Thesen dazu:
1) Neue Sektor-Prioritäten
Studien zu Smart City zeigen: Lösungen im Bereich Gesundheit und Bildung spielen bisher eine klar untergeordnete Rolle in Smart-City-Konzepten. Dies gilt sowohl in Deutschland als auch weltweit. Es ist davon auszugehen, dass sich das ändern wird, weil beispielsweise ein Bildungsbetrieb in der neuen Normalität nur mehr digital unterstützt funktionieren wird, und viel mehr Menschen den Mehrwert einer medizinischen Konsultation auf Distanz erkennen und entsprechende Lösungen nutzen wollen.
2) Neues Spiel in der Mobilität
Pessimisten sehen in der urbanen Mobilität zwei Entwicklungen: Zum einen nimmt der Individualverkehr relativ gesehen zu, weil Menschen vor der Enge in öffentlichen Verkehrsmitteln zurückschrecken. Zum anderen brechen aufgrund des eingeschränkten Verkehrs manche Geschäftsmodelle neuer Anbieter von Mikromobiltät zusammen. Parallel erobern zum Beispiel mit Pop-up-Radwegen andere Verkehrsträger mehr öffentlichen Raum, oder dieser wird gleich zu „Gastro-Meilen“ umgewidmet. Es wird also mit hoher Wahrscheinlichkeit neue Gleichgewichte im Mix der urbanen Verkehrsträger geben. Dies ist eine Chance für Städte, mit neuen smarten Konzepten den Verkehr nachhaltiger und sicherer zu gestalten.
3) Neue Raumordnung, auch im Digitalen
Distanzregeln sind in den häufig hochverdichteten urbanen Zentren eine enorme Herausforderung. Es gilt, den verfügbaren Raum effizienter zu nutzen und gleichzeitig den Abstand zwischen den Einzelnen beizubehalten. Das wird nur dann gelingen, wenn Angebote für virtuelle öffentliche Räume aufgebaut und genutzt werden können. Wir wissen jetzt: Videokonferenzen mit mehreren hundert Teilnehmern können funktionieren. Aber wie gestalten wir Interaktion und „Raumgefühl“ bei größeren Versammlungen? Hier ist Entwicklungsarbeit zu leisten und es sind noch mehr Erfahrungen zu sammeln, was funktioniert und was nicht.
4) Mehr Überwachung und Datenintegration
Auch wenn es in Deutschland viele nicht freuen wird: Städte werden nicht umhinkommen, eine engmaschigere Überwachung von Risiken für Gesundheit und Sicherheit der Menschen im öffentlichen Raum zu betreiben. Damit verbunden sind stärker automatisierte Meldungen und Reaktionen auf identifizierte Risiken. Wie viele Beispiele zeigen, ist das in einem europäischen Modell und unter Wahrung der Datenschutzregeln möglich.
5) Digitale Distanzierung
In der Pandemie – und in einer neuen Normalität wahrscheinlich erst einmal bis auf Weiteres – ist die Reduktion von physischen Kontakten essentiell. Und man hat in Deutschland gesehen, wie schnell sich Regeln und Vorgaben, die dem bisher entgegenstanden, wandeln können, etwa bei der möglichst kontaktlosen Übergabe von Waren. Dort wo „digital first“ ein Prinzip des Denkens und der Lösungsentwicklung war und Vordenker das „mobile first“ propagieren, wird es zukünftig „touchless first“ heißen. Will sagen: Digitale Lösungen, die berührungsfreie Interaktion erlauben, werden stärker gefordert werden. Angefangen bei berührungsfreien Bezahlsystemen, über sprachgesteuerte Interaktion bis hin zu komplett digital abbildbaren Prozessen, die heute oft noch Medienbrüche und physische Interaktion auch mit digitalen Objekten beinhalten.
Fazit: Smart Cities werden sich wandeln
In Summe werden wir einen grundsätzlichen Wandel in den Typologien der Smart-City-Strategien erleben: Wo heute der Fokus vieler Strategien stark auf Kernthemen wie „lebenswerte Stadt“ (Beispiel Wien), „innovative/Digitale Stadt“ (Beispiel Singapur) oder „nachhaltige Stadt“ (Beispiel Kopenhagen) liegt, wird zukünftig das Modell der „resilienten Stadt“ mehr Bedeutung gewinnen. Bisher war dieses Modell stärker in Schwellenländern vorzufinden, praktisch alle Smart Cities werden sich jetzt damit beschäftigen müssen, wie eine stärkere Widerstandsfähigkeit bei Krisen und Katastrophen sichergestellt werden kann.
Thilo Zelt ist Managing Director und Partner der Boston Consulting Group in Berlin und Mitglied des Führungsteams der Praxisgruppe öffentlicher Sektor sowie des globalen Center for Digital Government von BCG. Er ist spezialisiert auf Strategie- und Transformationsprojekte im öffentlichen Sektor und Experte für digitale Strategien, Smart Cities und Künstliche Intelligenz. Zuvor war er Partner bei Roland Berger.