Standpunkte KI für das Gemeinwohl: Vom Potenzial zu gelebter Praxis




Künstliche Intelligenz kann gesellschaftliche Herausforderungen lösen – doch viele zivilgesellschaftliche Organisationen stehen vor großen Hürden. Ihnen fehlen Ressourcen, Know-how und Zugang zu relevanten Daten, bemängeln Julian Stubbe und Noah Damschke von der Geschäftsstelle Civic Coding. Im Standpunkt erläutern sie, wie eine gemeinwohlorientierte KI-Zukunft gelingen kann.
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Jetzt kostenfrei testenKünstliche Intelligenz (KI) gilt als Schlüsseltechnologie des 21. Jahrhunderts. Ihr Potenzial, gesellschaftliche Herausforderungen zu lösen – etwa in den Bereichen Bildung, Gesundheit, Teilhabe oder Umwelt – ist enorm. Während Industrie und Verwaltung zunehmend in KI investieren, stehen viele der über 600.000 zivilgesellschaftlichen Organisationen vor strukturellen Hürden: Ihnen fehlen nicht nur Ressourcen, sondern oft auch der Zugang zu Fachwissen, Daten und strategischer Orientierung.
Dabei ist ihr Beitrag unverzichtbar, wenn es darum geht, KI gemeinwohlorientiert zu gestalten. Diese Dimension adressiert auch die neue Bundesregierung: Der Koalitionsvertrag bekennt sich zur Förderung von KI-Infrastrukturen, Open Source, Kompetenzaufbau und fairen Zugangsmöglichkeiten. Die Zivilgesellschaft wird explizit genannt, wenn es um Deutschland als „KI-Nation“ und Spitzenstandort für Zukunftstechnologien geht. Erkenntnisse und Erfahrungen aus der Initiative Civic Coding zeigen, was es braucht, um erfolgreich zu sein.
Internationale Appelle und nationale Realitäten
Internationale Initiativen unterstreichen die Bedeutung einer gemeinwohlorientierten KI-Entwicklung. So betont etwa die „Hamburg Declaration on Responsible AI for the SDGs“, die Anfang Juni publiziert und von 36 internationalen Stakeholder aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft unterzeichnet wurde, dass Künstliche Intelligenz kein Privileg sein darf, sondern weltweit zur Erreichung der globalen Nachhaltigkeitsziele (SDGs) beitragen muss.
Die Deklaration wurde im Zuge des AI Action Summits auf den Weg gebracht, ebenso wie die internationale Initiative Current AI, die betont, dass KI weltweit transparent, gerecht und partizipativ gestaltet werden muss. Solche Initiativen können Plattformen bieten, um zivilgesellschaftliches Wissen in nationale und internationale Strategien einzubringen.
Digitale Basis vorhanden - strategische Nutzung fehlt
Doch wie steht es um die Umsetzungsfähigkeit gemeinwohlorientierter KI durch zivilgesellschaftliche Akteur:innen? Die Initiative Civic Coding, getragen vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Bundesministerium für Umwelt, Klimaschutz, Naturschutz und nukleare Sicherheit, Bundesministerium für Bildung, Familie, Senioren, Frauen und Jugend und Bundesministerium für Digitales und Staatsmodernisierung, begleitet seit 2021 Organisationen bei der Entwicklung und Anwendung gemeinwohlorientierter KI-Lösungen. In der neuen Kurzstudie Gemeinwohlorientierte KI: Ist die Zivilgesellschaft „AI ready?“ wird ein differenziertes Bild aufgezeigt:
- Viele Organisationen nutzen bereits einfache KI-Tools wie Text- oder Übersetzungsprogramme. Doch nur 16 Prozent haben Zugang zu spezialisierter KI-Infrastruktur. Strategische Anwendungen sind selten, oft fehlen Know-how, Finanzierung und technologische Grundlagen. Besonders kleineren Träger:innen fällt es schwerer, die notwendigen Ressourcen bereitzustellen und beispielsweise ethische Leitlinien zu formulieren.
- Zwar spielt Datenschutz eine zentrale Rolle, aber Aspekte wie algorithmische Fairness oder Erklärbarkeit werden noch selten berücksichtigt.
- Nur etwa ein Viertel verfolgt eine eigene KI-Strategie. Viele Projekte bleiben im Pilotstatus – ohne Aussicht auf Skalierung oder Verstetigung.
- Neben vereinfachten Förderprozessen werden vor allem Unterstützung zu KI-Basiskompetenzen, rechtliche Klarheit und mehr Investition in KI-Forschung und Open-Data gefordert.
Praxisbeispiele zeigen Potenzial gemeinwohlorientierter KI
Beispiele zeigen, welches Potenzial in zivilgesellschaftlicher KI-Nutzung steckt: So unterstützt „barrierefrAI“ als KI-gestützter Assistent digitale Barrierefreiheit für Menschen mit Behinderung. „GhostNet Zero.AI“ wiederum analysiert Satellitendaten und hilft, Weltmeere von verloren gegangenen Fischernetzen zu befreien. Das Deutsche Rote Kreuz nutzt eine eigene generative Chat-KI, um seine Fachinformationen besser zugänglich zu machen. Diese und viele weitere Projekte zeigen, was möglich ist – wenn Technik, Zielorientierung und Unterstützung zusammenkommen.
Handlungsansätze für gemeinwohlorientierte KI durch zivilgesellschaftliche Organisationen
Die allgemeinen Vereinbarungen aus dem Koalitionsvertrag – wie der Ausbau von Cloud-Kapazitäten, Open-Source-Angeboten oder gezielte Kompetenzförderung – adressieren bereits einen Teil der identifizierten Engpässe. Entscheidend wird jedoch sein, wie niedrigschwellig, passgenau und dauerhaft diese Zugänge gestaltet werden. Aus den Befunden lassen sich einige Handlungsansätze ableiten:
Zugang zu Infrastruktur und Ressourcen sicherstellen – Rechenleistung, sichere Datenräume und öffentliche KI-Modelle müssen bereitgestellt und langfristig abgesichert werden. Der angekündigte Deutschlandfonds sowie Programme zur Entlastung gemeinwohlorientierter Projekte von hohen Einstiegskosten können hier eine Rolle spielen. Gezielte finanzielle Unterstützung v.a. für kleinere Organisationen und unkomplizierte Antragsprozesse sind unerlässlich.
- Kompetenzaufbau – Schulungen, Peer-Learning-Formate und individuelle Beratung sind Voraussetzung, damit Organisationen KI strategisch einsetzen können. Der Koalitionsvertrag kündigt Unterstützungsangebote an – sie müssen passgenau und kontinuierlich finanziert werden.
- Offene Technologien – Open Source ist mehr als eine technische Frage. Es geht um digitale Souveränität, wirtschaftliche Unabhängigkeit und die Möglichkeit zur Mitgestaltung. Projekte wie OpenEuroLLM, Civic Data Spaces oder öffentlich geförderte Sprachmodelle müssen auf Dauer zugänglich und entwickelbar bleiben.
- Ethik und Governance – Zivilgesellschaftliche Akteur*innen müssen befähigt werden, selbst ethische Standards zu entwickeln und politische Debatten mitzugestalten. Gerade mit Blick auf die Umsetzung der EU KI-Verordnung braucht es niedrigschwellige Formate, in denen konkrete Anwendungsfragen bearbeitet werden können.
- Langfristige Förderung – Viele Pilotprojekte scheitern nicht an der Idee, sondern an der Verstetigung. Hier braucht es andere Förderlogiken: weg von kurzfristiger Innovationsrhetorik, hin zu struktureller Verlässlichkeit. Dazu gehört auch die Möglichkeit, KI-Vorhaben mit sozialen Wirkungszielen finanziell und rechtlich tragfähig zu verankern.
Jetzt die Weichen für eine gemeinwohlorientierte KI-Zukunft stellen
Wenn gemeinwohlorientierte KI kein wohlklingendes Schlagwort bleiben soll, müssen jetzt Strukturen geschaffen werden, die Beteiligung, Selbstbestimmung und Innovation gleichermaßen ermöglichen. Die Grundlage dafür ist politisch gelegt – durch den Koalitionsvertrag ebenso wie durch internationale Verpflichtungen und nationales Engagement, auch in zivilgesellschaftlichen Initiativen.
Entscheidend wird sein, ob diese Zusagen konsequent in praktische Infrastruktur, offene Entwicklungsräume, zugängliche Förderinstrumente und eine strategische, langfristige Begleitung im Zusammenspiel zwischen Politik, Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft übersetzt werden. Die Zivilgesellschaft kann Verantwortung übernehmen – wenn sie dazu befähigt wird.
Julian Stubbe ist Seniorberater beim Think Tank Institut für Innovation und Technik (iit, Berlin) und leitet die Begleitforschung der Initiative Civic Coding. Noah Damschke ist Strategischer Projektleiter der Geschäftsstelle Civic Coding.
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