Über wenige Themen wird so intensiv und kontrovers diskutiert wie über den „Überwachungsstaat“. Das ist wichtig und richtig. Denn die rechtsstaatliche Begrenzung und demokratische Kontrolle staatlicher Überwachung sind unverzichtbare Kernelemente unserer freiheitlichen Verfassungsordnung. Hierüber herrscht breiter Konsens in Politik, Gesellschaft und den relevanten wissenschaftlichen Disziplinen. Umso erstaunlicher erscheint es daher, wie wenig empirisch belastbares Wissen es bislang über den tatsächlichen Umfang staatlicher Überwachungsmaßnahmen gibt.
Dies haben auch die Ampel-Parteien erkannt und die Erstellung einer „Überwachungsgesamtrechnung“ in den Koalitionsvertrag aufgenommen. Der etwas sperrige Begriff bezieht sich auf die Diskussion zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Vorratsdatenspeicherung. Er drückt die Notwendigkeit einer Gesamtbetrachtung und Limitierung staatlicher Überwachung aus, die für die freiheitliche Identität der Bunderepublik zwingend ist.
Die Perspektive hat sich mittlerweile erweitert und nimmt nicht nur einzelne Sektoren wie die Telekommunikation, sondern die Gesamtheit aller Überwachungsmaßnahmen der Sicherheitsbehörden in den Fokus, soweit sie die Erhebung von oder den Zugriff auf Daten der Bürgerinnen und Bürger betreffen. Diese Eingriffe dürfen nicht isoliert betrachtet werden, sondern müssen – wie der Koalitionsvertrag zutreffend formuliert, in ihrer Gesamtwirkung betrachtet werden.
Überwachungsmaßnahmen gesamtheitlich auf den Prüfstand stellen – aber wie?
Einheitliche Vorstellungen, wie das realisiert werden soll, gibt es bislang allerdings noch nicht. In der Vergangenheit wurde vorwiegend abstrakt über die rechtliche Zu- oder Unzulässigkeit solcher Maßnahmen, wie etwa die sogenannte Online-Durchsuchung, diskutiert. Unseres Erachtens nach muss auch die Häufigkeit ihrer Durchführung mitbetrachtet werden. Andernfalls wäre eine wirklichkeitsnahe Berechnung der konkreten Überwachungslast, der die Bürgerinnen und Bürger ausgesetzt sind, nicht möglich.
Die rein juristische Betrachtung greift hier häufig zu kurz: Die bloße Existenz einer Gesetzesvorschrift, die etwa der Polizei unter bestimmten Umständen eine Überwachungsmaßnahme erlauben würde, sagt über die tatsächliche Überwachungslast wenig aus. Entscheidend ist vielmehr, ob und wie häufig eine Maßnahme zum Einsatz kommt. Erst wenn sie tatsächlich eingesetzt wird, bestimmen die gesetzlich normierten Umstände – Voraussetzungen, Ziel und Zweck, rechtliche Mechanismen zum Schutz beziehungsweise zur Weiterverwertung der erhobenen Daten und viele andere mehr – maßgeblich mit über die Eingriffsintensität der Maßnahme.
So könnte das Instrument aussehen
Für die Lösung dieser Herausforderung haben wir am Freiburger Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht in einem Pilotprojekt ein Konzept zum Aufbau eines periodischen Überwachungsbarometers entwickelt. Ziel ist es, ein Instrument zur Messung der Überwachungslast auf der Grundlage verschiedener Parameter zu schaffen. Im Mittelpunkt stehen dabei die Häufigkeit sowie die Eingriffsintensität der durchgeführten Maßnahmen.
Eine hohe Inzidenz erhöht so die statistische Wahrscheinlichkeit und damit das individuelle Risiko der Betroffenheit. Allerdings können die einzelnen Maßnahmen nicht einfach pauschal addiert werden. Eine bestimmte Überwachungsmaßnahme, zum Beispiel das Abhören eines Telefonanschlusses, kann in Bundesland A eine andere Eingriffsschwere haben als in Land B, wenn dort zum Beispiel andere Regeln für die Dauer der Überwachung oder strengere Grenzen für die Weitergabe oder spätere Löschung der Daten gelten. Auch macht es einen gewichtigen Unterschied, ob Daten abgefragt werden, um eine akute Gefahr für das Leben einer verirrten Person abzuwenden, oder ob eventuell strafrechtliche Ermittlungen und eine Gefängnisstrafe nachfolgen können.
Neuen Überwachungsmaßnahmen Rechnung tragen
Das Überwachungsgeschehen ist freilich nicht statisch. Die maßgeblichen Sicherheitsgesetze des Bundes und der Länder werden kontinuierlich erneuert. Ihre Anwendung unterliegt ebenfalls permanenten Schwankungen, die unter anderem durch Veränderungen der Sicherheitslage und die technologische Entwicklung beeinflusst werden, welche dann wiederum Anlass für eventuelle weitere Anpassungen der gesetzlichen Grundlagen sein können. Daher würde eine einmalige Bestandsaufnahme des Status Quo zu kurz greifen. Benötigt wird ein kontinuierliches, theoretisch und empirisch unterlegtes Monitoring der Entwicklung, das in einem jährlichen Turnus ein aktualisiertes Lagebild generieren kann, das vielfältige Vergleichsmöglichkeiten eröffnet, die dabei helfen können, bereichs- und maßnahmenspezifische Entwicklungen zu identifizieren und Trends frühzeitig zu erkennen.
Als wissenschaftsbasiertes Instrument soll das Überwachungsbarometer die Situation objektiv darstellen und kann daher auch einen Beitrag zur Versachlichung des Diskurses leisten. Auch das Bundesverfassungsgericht legt in einer neueren Rechtsprechung immer größeren Wert auf eine transparente Rechtsanwendung: Das zeigt sich in den von ihm nun auch verfassungsrechtlich eingeforderten Dokumentationspflichten für intensivere Überwachungsmaßnahmen. Die erforderlichen Informationen sind bereits heute immer häufiger verfügbar. Sie werden bislang allerdings nicht systematisch aufbereitet. Unser Konzept für ein periodisches Überwachungsbarometer zeigt, dass dem abgeholfen werden kann.
Die politische Interpretation der Ergebnisse muss dann freilich an anderer Stelle erfolgen. Auch hierfür ist im Koalitionsvertrag eine praktikable Lösung vorgezeichnet: Die Einrichtung einer auf Dauer angelegten sogenannten Freiheitskommission, die künftig bei allen einschlägigen Gesetzesvorhaben beteiligt werden soll. Die im Koalitionsvertrag vorgesehene Überwachungsgesamtrechnung bis 2023 könnte genutzt werden, um ein Überwachungsbarometer aufzusetzen und erste Befunde zu erheben. Als periodisches Instrument könnte es dann für den weiteren Ausbau in die kontinuierliche Arbeit der Kommission überführt werden. Die Barometerdaten böten eine wichtige Ressource für den Beratungsauftrag der Kommission und zur Entwicklung einer stärker evidenzbasierten Innen- und Rechtspolitik.
Ralf Poscher ist Direktor und Leiter der Abteilung Öffentliches Recht des Max-Planck-Instituts zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht in Freiburg. Michael Kilchling ist dort Senior Researcher.