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Digitalisierung & KI

Standpunkte Warum Europa es besser kann – Eine Replik auf J.D. Vance

Louisa Specht-Riemenschneider, Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit (BfDI)
Louisa Specht-Riemenschneider, Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit (BfDI)

Die Kampfreden des US-Vizepräsidenten J.D. Vance sollten uns nicht entmutigen. Stattdessen muss Europa einen eigenen Weg entwickeln, schreibt Bundesdatenschutzbeauftragte Louisa Specht-Riemenschneider. Mit asymmetrischer Digitalregulierung, die das gesellschaftliche Wohl in den Fokus rückt, und einer Strategie für digitale Souveränität.

von Louisa Specht-Riemenschneider

veröffentlicht am 20.02.2025

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In welcher Zukunft wollen wir leben? Ernüchternd wenige Antworten auf diese Frage hat uns dieser Wahlkampf geliefert. Sinnbildlich war das Kanzlerduell. Rückwärtsgewandt verharrten die Kandidaten in einer Verteidigungshaltung, ohne die Frage der Zukunftsfähigkeit Europas zu stellen, ohne die dringend erforderliche Frage der richtigen digitalen Wirtschaftspolitik zu stellen, ohne eine Vision zu teilen, aus der dieser Kontinent wieder Hoffnung schöpfen kann.

Wenig später wollte uns der amerikanische Vizepräsident J.D. Vance in seiner Rede auf dem AI Action Summit weismachen, dass wir keine Wahl haben: Wir sollten uns einer Technologie und einer deregulierten Wirtschaftsordnung ergeben, um nicht noch weiter abgehängt zu werden, so der Rat. Das wäre unreflektiert und gegen alles, wofür wir in Europa stehen, sage ich – nicht als Bundesdatenschutzbeauftragte – sondern als Bürgerin in einem wenig digitalen Land.

Vorreiter um jeden Preis?

Ja, KI birgt großartige Chancen: Denkt man daran, wie vielen Menschen geholfen werden kann durch die KI-basierte Detektion jener Areale im Gehirn, die Epilepsie verursachen und die nach ihrer Detektion schlicht entfernt werden können – da möchte ich jedes regulierungsbasierte Hindernis, das dieser Technologie im Weg steht, unmittelbar selbst aus dem Weg schaffen. Und noch mehr gilt dies für die Förderung stärker individualisierter Tumortherapien, die Tod und Krankheit von uns nehmen können. Der Einsatz von KI in der Medizin kann und wird unsere Gesundheitsversorgung verbessern. Davon bin ich fest überzeugt – US-Vizepräsident Vance und ich uns hier einig.

Und zugleich kann KI – falsch eingesetzt – Tod und Vernichtung bringen. Das Streben nach einer Vorreiterrolle um jeden Preis, Versprechen von Vance wie etwa „AI is going to make us more productive, more prosperous, and more free“ ohne ein Ziel vor Augen, ohne eine Vision, wo uns das als Gesellschaft hinführen soll, ohne Reflexion, ist daher nicht klug.

Europa kann es besser

Für Sie vielleicht überraschend stimme ich ein in die Riege derer, die mehr Zurückhaltung bei der Regulierung im Digitalen fordern. Zu viel Regulierung belastet insbesondere den Mittelstand, Start-ups, die Wissenschaft und gemeinnützige Organisationen in Europa über Gebühr. Unter dieser Regulierungslast zu ersticken droht insbesondere die Wirtschaft.

Wir sehen derzeit: Der schlichte Zuwachs an nicht aufeinander abgestimmten europäischen sowie nationalen Digitalrechtsakten, ob technikneutral oder technikspezifisch, horizontal oder vertikal, bringt nicht mehr Rechtssicherheit. Mit jedem neuen Rechtsakt wird es komplizierter. Die großen Player mögen darüber lachen oder die Regeln einfach ignorieren, Start-ups und Mittelständler haben schlicht keine Kapazitäten, um all ihren Verpflichtungen aus dieser Regulierung nachzukommen. Ich würde sogar so weit gehen, zu sagen, dass vielen Unternehmen bereits jetzt die Kapazitäten fehlen, im Regulierungsdickicht überhaupt zu identifizieren, welche Regelungen für sie gelten und welche nicht.

Zauberwort asymmetrische Digitalregulierung

Zusammengerechnet haben – und da zitiere ich meinen Kollegen Alexander Peukert – die KI-Verordnung, der Digital Services Act, Data Act, die NIS-2-Richtlinie, der Digital Markets Act, Data Governance Act und das Europäische Medienfreiheitsgesetz 507 Seiten, 423 Artikel und 849 Erwägungsgründe. Das sind 324.441 Wörter! Zum Vergleich: Dieser Gastbeitrag hat 1362 Wörter. Da werden Einhaltung und Umsetzung zu einem Mammutprojekt.

Deshalb sollte der Mittelstand in Teilen von den Pflichten der Digitalregulierung ausgenommen werden. Ich denke da an bestimmte Teile des Data Acts, des Data Governance Acts und an bestimmte Verpflichtungen aus dem AI Act. Man sollte hier zu einem passgenauen Ansatz der Regulierung übergehen mit zu- und abnehmenden Verpflichtungen je nach Unternehmensgröße. Mit ihrer strategischen Umsetzungs- und Vereinfachungsagenda 2025 hat die Europäische Kommission auch bereits ihren Blick in die Richtung dieser Ziellinie ausgerichtet. Asymmetrische Digitalregulierung ist das Zauberwort auch für eine zukünftige Bundesregierung.

Besser noch: asymmetrische Digitalregulierung mit Sozialbezug. Eine Regulierung also, die die Großen stärker verpflichtet als die Kleinen und gleichzeitig auf den Zweck des Digitalen zurückkommt. Nämlich Ausnahmen und Anreize für diejenigen zu schaffen, die zum Wohle der Gesellschaft handeln. Das ist der Weg, der Erfolg verspricht. Während die USA auf Kommerzialisierung um jeden Preis und China auf Überwachung setzen, haben wir die Möglichkeit, mit einer dritten Wirtschaftsordnung zu punkten, die europäische Werte nicht mit Füßen tritt, sondern ganz im Gegenteil sie in einer digitalen Zukunft realisiert, in der es sich zu leben lohnt.

Was es für eine soziale digitale Marktwirtschaft braucht

Eine solche „soziale digitale Marktwirtschaft“ braucht steuerliche Entlastungen und regulatorische Besserstellung gemeinwohlorientierter Digitalisierung, jedenfalls für KMU. Gezielte Förderung aus einer Hand. Gefordert sind auch wir als Staat.

Die digitale Wirtschaft braucht eine digitale Verwaltung. Mit Nachdruck muss das Once-Only-Prinzip und die E-Akte in der Verwaltung umgesetzt werden. Die Nachnutzung von gut durchdachten digitalen Leistungen muss selbstverständlicher werden. Darüber hinaus müssen Leistungen des Staates, wie zum Beispiel das Klimageld, endlich auf digitalem Wege einkommensabhängig und automatisiert ausgezahlt werden können. Es kann nicht sein, dass wir wirtschaftlich eine Vorreiterrolle beanspruchen wollen, als Staat aber nicht in der Lage sind, digital voranzugehen.

Die Herausforderungen, Daten nutzbar zu machen und sie zugleich zu schützen, sind für den Staat und die Wirtschaft oft identisch. Wieso arbeiten wir nicht an gemeinsamen Lösungen? Kein Silodenken mehr! Deshalb macht es im Übrigen auch Sinn, die Digitalisierung von Verwaltung und Wirtschaft in einem Digitalministerium zusammenzudenken und nicht eine der beiden Aufgaben in einem anderen Ministerium zu belassen. Digitalregulierung – egal ob für die Verwaltung oder die Wirtschaft – muss aus einer Hand kommen, um endlich zu gelingen.

Digitale Souveränität – aber gründlich

Viele Probleme in Europa sind darauf zurückzuführen, dass wir abhängig sind von Diensten aus dem Ausland, beispielsweise von Softwareanbietern. Digitale Souveränität ist aber lebensnotwendig für Staat, Wirtschaft sowie Forschung. Deshalb sollten wir massiv in Serverinfrastrukturen und Softwarelösungen investieren, die Datenverarbeitungen aus Europa in Europa versprechen. Nicht weil wir Drittstaatlösungen ausschließen wollen, sondern weil wir Wahlfreiheit brauchen, um nicht gezwungen zu sein, Nutzungsbedingungen zu akzeptieren, die nicht unseren Vorstellungen und Werten entsprechen.

Gleichzeitig muss darüber nachgedacht werden, was eine unregulierte Datennutzbarkeit für Gefahren birgt. Wir machen uns zum Beispiel darüber Gedanken, ob und wie deutsche Autohersteller Passanten darüber informieren müssen, dass deren Daten vom vernetzten Fahrzeug erhoben werden. Die Teslas und BYDs dieser Welt fahren dabei lächelnd mit Allround-Kameras an uns vorbei, transferieren die Daten in Drittländer und niemand weiß, wann, wo und wie per Fernzugriff Fahrzeuge gesteuert werden können. IT-Sicherheit und Datenhoheit des Einzelnen sind keine Kfz-Zulassungsvoraussetzung im europäischen Markt. Warum eigentlich nicht?

Grenzen des Digitalen

Der Ton in den USA stimmt mich sorgenvoll. Doch auch hierzulande werden nicht nur Politiker:innen, sondern auch ganz normale Menschen digital angegriffen, bis sie sich aus dem öffentlichen Diskurs verabschieden. US-amerikanische und chinesische Dienste werden in Europa durch den DSA nicht überreguliert, es geht auch nicht um den absurden Vorwurf der Zensur, den US-Vizepräsident Vance in seiner Rede in den Raum gestellt hat. Wir stehen selbstbewusst ein für ein friedliches digitales Miteinander, für die Erneuerung eines Gesellschaftsvertrags nach Rousseau, an den sich die Marktteilnehmer halten und in dessen besten Sinne sie agieren.

In der Tat aber zeigen wir Grenzen auf: Thierry Breton erinnerte Elon Musk nach der Twitter-Übernahme im Oktober 2022 zurecht selbstbewusst daran – und dieser Satz sollte uns immer prägen: In Europe, the bird flies by our European rules“. Deregulierung und regulatorische Besserstellung kann nicht für diejenigen nutzbar gemacht werden, die mit Marktdominanz einer Gesellschaft ihre Bedingungen aufzwängen ohne Rücksicht auf die Werte dieser Gesellschaft. Der DSA ist daher eine richtige Maßnahme gewesen, die aufrechterhalten und sogar noch ausgebaut werden muss. Viel wird auf die Durchsetzung der Maßnahmen gegen systemische Risiken ankommen. Alle Augen blicken hier in Deutschland auf die Bundesnetzagentur.

Gesellschaftliche Werte, Datenschutz und Digitalisierung miteinander versöhnen

Zuletzt bedarf es einer breiten Initiative, um auf nationaler und europäischer Ebene zu zeigen: Gesellschaftliche Werte wie Datenschutz, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit schließen Datennutzbarkeit und Innovation nicht aus. Ganz im Gegenteil. Vance fordert von seinen „europäischen Freunden“ Optimismus statt Ängstlichkeit. Dem würde ich gern entgegenhalten: Kluge Politik entscheidet sich nicht zwischen gesellschaftlichen Werten auf der einen oder Datennutzbarkeit und Digitalisierung auf der anderen Seite. Kluge Politik findet Lösungen, die europäische Werte und Fortschritt miteinander versöhnen.

Ja, es reicht nicht, an kleinen Stellschrauben zu drehen. Und ja, auch ich sehe den Bedarf einer digitalpolitischen Zurückhaltung bei neuer Regulierung. Aber ich sehe auch ganz klar, dass der „American way“ nicht unser Weg ist. Unser Ziel sollte es sein, Abhängigkeiten zu reduzieren, gesellschaftliche Werte nicht aufzugeben und dennoch die Funktionsfähigkeit der Digitalwirtschaft durch legislative Erleichterungen und gezielte Förderung sicherzustellen.

Eine von gesellschaftlichen Werten getragene Digitalisierung würde ich mir wünschen für die nächste Legislaturperiode – die letzte, in der wir die Möglichkeit haben werden, selbstbestimmt zu entscheiden, wohin dieser Kontinent digitalpolitisch gehen soll.

Louisa Specht-Riemenschneider ist seit September 2024 Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit (BfDI). Sie war zuvor Inhaberin des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Recht der Datenwirtschaft, des Datenschutzes, der Digitalisierung und der Künstlichen Intelligenz der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn und Vorsitzende des Sachverständigenrats für Verbraucherfragen. Ihre Forderungen zur Bundestagswahl hat sie in der „Datenschutzpolitischen Agenda für die 21. Wahlperiode des Deutschen Bundestages“ zusammengefasst.

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