Das Mandat für das Internet Governance Forum (IGF) basiert auf der Tunis-Agenda aus dem Jahr 2005. Auf dem Weltgipfel zur Informationsgesellschaft erkannten die Regierungen, dass das Internet ein großes internationales Thema ist, obwohl sie sich bis zu diesem Zeitpunkt nicht einigen konnten, wie sie es „regeln“ sollten. China wollte ein neues zwischenstaatliches Organ, während die USA eine führende Rolle des Privatsektors favorisierten.
2003 gründete der UN-Generalsekretär Kofi Annan die Working Group on Internet Governance (WGIG). Ihre Lösung für die Kontroverse war ein Multi-Stakeholder-orientierter Ansatz. Alle Stakeholder sollten sich in ihren jeweiligen Rollen an der Entwicklung und Entscheidungsfindung in Bezug auf das Internet beteiligen. Es konnte jedoch kein Konsens gefunden werden. Stattdessen einigten sich die Regierungen auf die Gründung des IGF.
Das IGF: Ein Minimalkonsens
Für die Schaffung einer solchen Diskussionsplattform lieferte die WGIG die folgende einfache Begründung: Internetfragen sind sehr komplex und besitzen technische, politische, wirtschaftliche und soziale Dimensionen. Bevor Entscheidungen getroffen werden, bedarf es einer breiten Diskussion, um diese Komplexität zu verstehen und die Perspektiven und Argumente aller beteiligten und betroffenen Gruppen zu erkennen, also der nationalen Regierungen, des Privatsektors, der technischen Community sowie der Zivilgesellschaft mit ihren Milliarden von Internetnutzern.
Da sich die Regierungen nicht darauf einigen konnten, einer neuen Institution Entscheidungskompetenzen für das Internet zu übertragen, schränkten sie die Zuständigkeiten des IGF „lediglich auf die Diskussionsebene“ ein. Die Befürchtung war, dass ein IGF mit Entscheidungsmandat die Plattform in ein neues zwischenstaatliches Schlachtfeld verwandeln und jede neutrale Diskussion auf der Grundlage von Fakten und Zahlen blockieren würde.
Freier Dialog – aber kein Effekt
Man hoffte, dass eine reine Diskussionsplattform einen offenen Meinungs- und Diskussionsaustausch sowie einen freien Dialog zwischen allen Beteiligten fördern würde. Das in den Diskussionen im IGF gewonnene Wissen sollte es den Entscheidungsträgern ermöglichen, Lösungen für internetbezogene Probleme zu finden, ohne dass jedoch im IGF Entscheidungen getroffen werden sollten. Hierfür sollten Organisationen mit Verhandlungs- und Entscheidungsmandat außerhalb des IGF zuständig sein.
Dieser Mechanismus hat jedoch auch seine Schwächen. Es existiert kein Verfahren, um die Ergebnisse der IGF-Plenarsitzungen und Workshops in praktische Prozesse einfließen zu lassen. Noch gibt es keine Anlaufstelle für das im IGF angesammelte Wissen und die Multi-Stakeholder-Ergebnisse.
Vor 20 Jahren war Internet Governance primär ein technisches Thema mit gewissen politischen Implikationen. Heute ist sie ein politisches Thema mit einer technischen Komponente. Die Welt hat sich verändert. Bedeutet das auch, dass sich das IGF ändern muss?
Die Antwort lautet: „Sowohl ja als auch nein“. „Nein“, denn es besteht nach wie vor die Notwendigkeit, die Komplexität von Themen zu verstehen, bevor Entscheidungen getroffen werden, und die heutigen internetbezogenen Themen – von der KI bis zum Internet der Dinge und 5G – sind weitaus komplexer als die in den frühen 2000er Jahren diskutierten Themen. Aber auch „ja“, denn es gilt, die Lücke zwischen Diskussion und Entscheidungsfindung zu schließen.
Im Jahr 2000 war die Regulierung des Internets für die Mehrheit der zwischenstaatlichen Organisationen kein Thema. Heute ist sie das. Das Internet steht heute auf der Agenda von mehr als zwei Dutzend globaler oder regionaler zwischenstaatlicher Gremien. In viele der internetbezogenen zwischenstaatlichen Verhandlungen ist das IGF jedoch nicht eingebunden. Die Verhandlungsführer sitzen in ihren Silos, ignorieren die Diskussionen im Multi-Stakeholder-Umfeld des IGF und erfinden das Rad immer wieder neu. Das ist nicht nur bedauerlich und eine Verschwendung von Ressourcen, sondern auch kontraproduktiv, wenn in einer vernetzten Welt die rechte Hand nicht weiß, was die linke tut.
Das fehlende Bindeglied zwischen Diskussion und Entscheidung
Wie das High-Level-Panel der Vereinten Nationen erst kürzlich hervorgehoben hat, leben wir in einer Welt der Cyberinterdependenz. Interdependenz verlangt nach Zusammenarbeit zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren. Und sie bedeutet, dass Cybersicherheit, digitale Wirtschaft, Menschenrechte und technologische Innovationen miteinander verknüpft sind. Mithilfe eines ganzheitlichen Ansatzes können in Verhandlungen nachhaltige Lösungen für ein sicheres, freies, offenes und unfragmentiertes Internet gefunden werden. Weltweit ist das IGF der einzige Ort für einen solchen Multi-Stakeholder und multidisziplinären Dialog.
Die einfache Wahrheit ist: Wir brauchen einen „Talking Shop“ als Diskussionsplattform, aber wir brauchen auch Mechanismen, die das Wissen, das Know-how und die Erfahrung des IGF in bestehende zwischenstaatliche Verhandlungen einfließen lassen. Das fehlende Bindeglied zwischen Diskussion und Entscheidung ist ein Verteilungsmechanismus, der die Botschaften des IGF unter anderem an die OEWG, UNGGE, GGE Laws, WTO, WIPO, ITU, UNESCO, ILO, WHO, UNCTAD, OSZE, G7, G20, BRICS, SCO, NATO, OSCE und die ASEAN weiterleitet und zu Feedback auffordert. Das würde eine Zusammenarbeit aller Stakeholder im Bereich der Internet Governance ermöglichen.
Wolfgang Kleinwächter ist emeritierter Professor der Universität Aarhus, Mitglied der Global Commission on Stability in Cyberspace, ehemaliges Mitglied des ICANN Board (2013 2015) sowie ehemaliger Sonderbotschafter für die Net Mundial Initiative (2014 2016). Dieser Beitrag stammt aus dem Buch Stimmt's? Die 50 häufigsten Internetmythen, das am 27. November erscheint.