Digitalisierung-KI icon

Digitalisierung & KI

Standpunkte Was Deutschland von Litauen lernen kann

Dennis-Kenji Kipker, Professor für Cybersicherheitsrecht in Bremen. Clemens Kröger, Business Director des Cyberintelligence Institute
Dennis-Kenji Kipker, Professor für Cybersicherheitsrecht in Bremen. Clemens Kröger, Business Director des Cyberintelligence Institute Foto: Fotos: Privat

Europa ist nicht digital abgehängt. Das kommt uns Deutschen nur so vor, weil wir uns selbst im Hintertreffen sehen. Was Deutschland von Litauen in Sachen Innovationskultur lernen kann, schildern Dennis-Kenji Kipker und Clemens Kröger im Standpunkt.

von Dennis-Kenji Kipker und Clemens Kröger

veröffentlicht am 04.10.2024

Lernen Sie den Tagesspiegel Background kennen

Sie lesen einen kostenfreien Artikel vom Tagesspiegel Background. Testen Sie jetzt unser werktägliches Entscheider-Briefing und erhalten Sie exklusive und aktuelle Hintergrundinformationen für 30 Tage kostenfrei.

Jetzt kostenfrei testen
Sie sind bereits Background-Kunde? Hier einloggen

Ist Europa wirklich technologisch abgehängt und kaum noch in der Lage, eigene digitale Wertschöpfung und Innovation hervorzubringen? Weit gefehlt: Im Baltikum boomt die Digitalbranche, dank gezielter Förderung, Investitionen und kluger Politik. Das schlägt sich in neuen Technologien, vielen Start-ups und so einigen Beispielen gelungener Verwaltungsdigitalisierung nieder.

Wenn die meisten Menschen hierzulande vom Baltikum hören, denken sie zuallererst an Estland. Doch Estland ist nicht der einzige baltische Staat, der in den vergangenen Jahren viel in seine Tech- und Innovationsszene investiert hat. Unter Insidern zwar bekannt, in der breiten Öffentlichkeit eher weniger, ist Litauen. Dabei können wir auch Deutschland viel lernen.

Ein langer Weg zum Erfolg

Litauen ist mit knapp über 2,8 Millionen Einwohnern der bevölkerungsreichste der drei baltischen Staaten, und auch der flächenmäßig größte. Die größten und wirtschaftlich bedeutendsten Städte sind Vilnius – zugleich Landeshauptstadt und politischer Mittelpunkt – sowie Kaunas und Klaipėda. Nach der Unabhängigkeit im Jahr 1991 folgten schwere Jahre der Umstrukturierung des politischen und wirtschaftlichen Systems. Dies waren Jahre der Unsicherheit und Entbehrung, denn Menschen verloren nicht nur ihre Arbeit, auch Korruption und Kriminalität erblühten. Mit Beginn der Jahrtausendwende konnten viele dieser Probleme gelöst werden.

Auch die Wirtschaft des Landes wurde von Grund auf komplett neu aufgebaut: Heute arbeiten über 50 Prozent der Menschen im Dienstleistungssektor, schon von klein auf wird bilingual auch in Englisch ausgebildet, viele junge Menschen entscheiden sich für technische Studiengänge. Mittlerweile wächst der litauische Tech-Talentpool jährlich um durchschnittlich dreizehn Prozent auf knapp 62.000 Menschen im Jahr 2022 und laut Angaben des litauischen Bildungs- und Forschungsministeriums waren im Jahr 2023 rund 13.000 Studierende in IT-Fächern eingeschrieben, mit Schwerpunkten in der Softwareentwicklung und im Cloud Computing.

Der gezielte Fokus auf Technologie hat Litauen in den vergangenen Jahren entscheidend geprägt. Dabei zeichnet sich das Land durch zwei Besonderheiten aus: Einerseits ist der eigene Markt aufgrund der verhältnismäßig geringen Bevölkerungszahl sehr begrenzt, sodass viele litauische Unternehmen von vornherein global denken und agieren, und andererseits versuchte man schon früh und erfolgreich, ausländische Unternehmen und Fachkräfte in das Land zu holen, etwa Unternehmen wie Moody’s, Nasdaq, Western Union oder die Danske Bank.

Insbesondere der Banken- und Fintech-Sektor spielt in der litauischen Digitalwirtschaft eine große Rolle, daneben aber auch Biotech, die Verteidigungsindustrie und Cybersicherheit. Oracle beispielsweise siedelte sich schon im Jahr 2002 im Land an und erwarb 2018 schließlich das litauische Cybersecurity Start-up Zenedge, das seither als Technologie-Hub für das US-Unternehmen fungiert.

Ohne gute Infrastruktur gibt es keine nachhaltige Innovation

Wo zahlreiche ausländische Unternehmen in das Land investieren, ist es wichtig, die Infrastruktur vor Ort auch attraktiv für ausländische Fachkräfte zu machen. So wird nicht nur die Work Life Balance großgeschrieben, sondern auch die englischsprachige Bilingualität großer Bevölkerungsteile betont.

Überdies werden der 5G- und Breitbandausbau im Land als essenziell für die weitere wirtschaftliche Entwicklung gesehen: Schon jetzt besitzt Vilnius eine bessere 5G-Abdeckung als Berlin und Litauen plant, bis 2027 eine Internetgeschwindigkeit von mindestens 100 Mbit/s für Haushalte und öffentliche Einrichtungen in Städten und ländlichen Gebieten bereitzustellen. Litauen vergleicht sich in Sachen Start-up-Kultur auch gerne mit internationalen Konkurrenten wie London und betont dabei regelmäßig, dass die Lebenshaltungskosten in dem Land nach wie vor deutlich geringer sind.

Doch nicht nur immer mehr ausländische Unternehmen siedeln sich in den vergangenen Jahren erfolgreich in Litauen an, auch erfolgreiche eigene Start-ups wurden in den letzten Jahren hervorgebracht, etwa die Einhörner Vinted und Nord Security (Hinweis: Kipker ist Mitglied im Advisory Board des Unternehmens), die jeweils einen Marktwert von mehr als einer Milliarde US-Dollar erreicht haben. Das führt dazu, dass junge Litauerinnen und Litauer, die nach Abschluss ihrer Ausbildung ausgewandert sind, wieder verstärkt in das Land zurückkehren.

Cybersicherheit als nationale Verteidigungsaufgabe

Auf der anderen Seite hat Litauen eine besondere geopolitische Situation, da es im Westen unmittelbar an das russische Kaliningrad und im Osten an Belarus angrenzt. Diese Lage erklärt auch, warum Sicherheit und Verteidigung in der Wirtschafts- und Außenpolitik einen hohen Stellenwert einnehmen. Als Teil der Ostgrenze der Europäischen Union ist Litauen nicht nur Nato-Mitglied, sondern aufgrund seiner exponierten Lage auch in besonderem Maße Cyberangriffen ausgesetzt. Als beispielsweise im Jahr 2023 der Nato-Gipfel in Vilnius stattfand, wurde das Land mehrfach Ziel von Cyberangriffen.

Deshalb verfolgt Litauen auch einen anderen Ansatz als Deutschland in Sachen Cybersicherheit: So ist die 2015 gegründete zuständige nationale Cybersicherheitsbehörde NCSC dem Verteidigungs- und nicht dem Innenressort zugeordnet. Das NCSC hat die Aufgaben, das Cybersicherheitsumfeld zu analysieren, die nationale IT-Infrastruktur zu schützen, Cybersicherheitspläne zu erstellen und Cyberangriffe zu analysieren. Außerdem gibt es Empfehlungen zur sicheren Nutzung des Internets heraus.

Unterstützt wird seine Arbeit vom Regional Cyber Defence Centre (RCDC), das unter anderem IT-Schulungen durchführt, die wissenschaftliche Forschung unterstützt und die strategische Zusammenarbeit mit anderen Staaten verstärkt – zentrale Partner sind hier die USA und die Ukraine.

Insbesondere aufgrund seiner aktiven Unterstützung des Geschehens in der Ukraine ist Litauen in den vergangenen Jahren verstärkt das Ziel von APT-Gruppen gewesen, die mit dem Kreml in Verbindung stehen. Im September 2023 wurde deshalb ein neues nationales Entwicklungsprogramm zur Cybersicherheit für die Jahre 2023-2030 auf den Weg gebracht, damit soll auch das litauische Cybersicherheitsgesetz aus 2014 überarbeitet werden – unter anderem mit den künftigen Anforderungen aus der neuen europäischen Cybersicherheitsrichtlinie NIS-2, aber auch im Hinblick auf Cybersecurity Awareness, KMUs und die Förderung von Public Private Partnerships für mehr flächendeckende Cybersicherheit.

Berufliche und persönliche Verwirklichung sind gleichbedeutend

Das Erfolgsbeispiel Litauen ist der beste Beleg dafür, dass Digital- und Innovationskultur auch in der EU gut funktionieren können. Sicherlich ist Litauen in vielerlei Hinsicht nicht direkt mit Deutschland vergleichbar. Zu groß sind allein schon die geografischen Unterschiede zwischen den beiden Staaten. Definitiv aber ist der litauische Erfolg nicht nur eine Frage von Technologieentwicklung und vorausschauender Staatsplanung, sondern eng mit dem intrinsischen Willen und den Werten verknüpft, digitale Innovation möglichst umfassend in die eigene Gesellschaft zu integrieren.

Das gelingt, indem ebenjene Innovation nicht nur als zahlenmäßig messbarer Wirtschaftsfaktor betrachtet wird, sondern als Kulturfaktor. Das bedeutet im Umkehrschluss aber auch, dass sich Digital- und Innovationskultur nicht einseitig politisch allein durch abstrakte staatliche Subventionen und groß angelegte und breit koordinierte Forschungsprogramme zu Schlüsseltechnologien erreichen lässt, sondern vor allem ein positives Innovationsklima erfordert. Eine Erkenntnis, die bei uns in Deutschland gefühlt manchmal zu kurz kommt, denn jede Investition in Forschung und Technologie sollte zugleich auch eine Investition in die eigene Gesellschaft sein.

Die Litauer jedoch blicken nach wie vor mit einem positiven Blick nach Deutschland – auf ein Land, das Innovations- und Technologiestandort für Industrie und Maschinenbau ist. Das sollte uns zu denken geben, dass es um unseren eigenen Wirtschaftsstandort im internationalen Vergleich womöglich nicht so schlecht bestellt ist, wie es auch medial gerne immer wieder kommuniziert wird. Unser Pessimismus stilisiert zunehmend zur selbsterfüllenden Prophezeiung. Innovation findet nämlich zuvorderst in den Köpfen der Menschen statt, und hier kann Deutschland definitiv noch sehr viel vom kleinen Litauen lernen.

Dennis-Kenji Kipker ist Professor für Cybersicherheitsrecht in Bremen und außerdem Scientific Director des Cyberintelligence Institute. Clemens Kröger ist Business Director des Cyberintelligence Institute.

Lernen Sie den Tagesspiegel Background kennen

Sie lesen einen kostenfreien Artikel vom Tagesspiegel Background. Testen Sie jetzt unser werktägliches Entscheider-Briefing und erhalten Sie exklusive und aktuelle Hintergrundinformationen für 30 Tage kostenfrei.

Jetzt kostenfrei testen
Sie sind bereits Background-Kunde? Hier einloggen