Sechs von zehn Menschen mit HIV haben in den vergangenen zwölf Monaten mindestens eine negative Erfahrung im Gesundheitswesen gemacht. Das zeigt die Studie „Positive Stimmen 2.0“ der Deutschen Aidshilfe zum Leben mit HIV in Deutschland. Ausgerechnet das für sie existenzielle Gesundheitswesen ist damit der Ort, an dem Menschen mit HIV am häufigsten Diskriminierungserfahrungen machen.
Auch andere Merkmale können zu Diskriminierung führen, etwa von queeren und trans Menschen oder Drogenkosument*innen. Menschen, die vulnerabel sind, haben ein allzu berechtigtes Interesse, selbst zu entscheiden, welche Informationen ihre Ärzt*innen sehen können. Sonst könnten sie Nachteile bei der Behandlung erfahren.
Medizinische Diagnosen können darüber hinaus schambehaftet sein. Das Spektrum reicht von psychischen Erkrankungen über Erektionsstörungen und Inkontinenz bis hin zu entzündlichen Darmerkrankungen. Was sensibel ist und wem man persönliche Gesundheitsdaten anvertraut, ist dabei eine hochpersönliche Frage.
Schon immer war es das Recht von Patient*innen, gegenüber Ärzt*innen und Einrichtungen selektiv mit Gesundheitsinformationen umzugehen. Wird bei der ePA nicht nachgebessert, droht genau dieses Recht verloren zu gehen.
Steuerung von Sichtbarkeit ist zu kompliziert
Das Grundprinzip der kommenden ePA ist einfach: Werden Patient*innen nicht aktiv, erhalten behandelnde Ärzt*innen Einsicht in ihre ePA und sehen alle dort hinterlegten Infos. Das Gesetz sieht zwar eine Reihe von Widerspruchsrechten vor. In der Praxis ist die Ausübung dieser Rechte aber kompliziert.
Ein Beispiel: Ein Mensch mit HIV möchte nicht, dass seine Infektion in der zahnärztlichen Praxis bekannt wird – schließlich kann die Mehrheit der Menschen mit HIV von Diskriminierungserfahrungen im Gesundheitswesen berichten. „Ich habe keinen Termin bei der Zahnärztin bekommen, nachdem ich dort meinen HIV-Status offengelegt habe“ ist dabei der Klassiker.
Was ist zu tun? Alle Dokumente, die Hinweise auf den HIV-Status enthalten, müssen einzeln verborgen werden. Und selbst das reicht nicht aus: Auch aus den Abrechnungsdaten der Krankenkassen und den eingenommenen Medikamenten lassen sich sensible Informationen und Diagnosen herauslesen – so auch der Status „HIV-positiv“.
Ohne expliziten Widerspruch von Patient*innen werden diese Informationen nämlich ebenfalls automatisch in die ePA eingespeist und sind im Standard für behandelnde Ärzt*innen sichtbar, selbst wenn ein Mensch mit HIV ausdrücklich gegenüber der Schwerpunktärztin erklärt hat, keine Dokumente mit HIV-Bezug in der ePA haben zu wollen.
Mühsam zusammengeklickte Selbstbestimmung wird so aufgehoben durch zwei andere Bereiche der ePA, welche die wenigsten Patient*innen auf dem Schirm haben werden.
Patient*innen brauchen maximale, handhabbare Selbstbestimmung
Theoretisch ist eine Steuerung der Sichtbarkeit in der ePA also möglich, wenn man Bescheid weiß. Als Aidshilfe haben wir deshalb eine digitale Handreichung erstellt, mit der Patient*innen eine Orientierungshilfe bekommen, worauf sie bei der Bedienung der ePA achten sollten. Doch gute Informationen für Patient*innen sind zwar wichtig, reichen aber nicht aus.
So braucht es etwa neue Komfortfunktionen, konsequent aus Patient*innenperspektive entwickelt und erprobt, um den Umgang mit der ePA massiv zu erleichtern. Patient*innen müssen zum Beispiel entscheiden können, dass neue Dokumente im Standard automatisch als „nur für mich sichtbar“ oder „nur für die Hausärztin sichtbar“ eingestellt werden. Das müsste auch andere Bereiche der ePA wie besagte Abrechnungsdaten und Medikationsinfos einschließen.
Möglich wäre das etwa durch eine Art „Wahl-o-Mat für Gesundheitsdaten“: Geleitet von wenigen, gut verständlichen Fragen legen Patient*innen fest, wie mit ihren Gesundheitsdaten in ePA und Forschung umgegangen werden soll. Diese Entscheidungen müssen dann über alle Teilbereiche der ePA hinweg automatisiert umgesetzt werden, damit Selbstbestimmung nicht mit großem Mehraufwand einhergeht.
Vertrauen lässt sich nicht verordnen
Als Digitalgesetz und Gesundheitsdatennutzungsgesetz beschlossen wurden, formulierte eine breite Allianz aus Digitaler Zivilgesellschaft, Patient*innenorganisationen, Verbänden von Ärzt*innen und Psycholog*innen sowie Einzelpersonen aus Wissenschaft, IT-Sicherheit und Politik zehn Prüfsteine zur Digitalisierung des Gesundheitswesens.
„Schon wieder gibt es Stimmen, es gehe zu schnell mit der Digitalisierung. Mit jeder Verzögerung verlieren aber auch Menschen ihr Leben, die mit besseren Daten überlebt hätten“, kommentierte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach – ohne dabei inhaltlich auf die Kritikpunkte und Vorschläge einzugehen.
Vertrauen und Akzeptanz für eine „ePA für alle“ lassen sich aber nicht durch Umsetzung der eigenen Vorstellungen und Informationskampagnen erreichen. Es sind gerade die unterschiedlichen Perspektiven, die es für die Entwicklung guter digitaler Lösungen braucht.
Entscheider*innen sollten deshalb Organisationen, die das Erfahrungswissen von Patient*innen einbringen, genau zuhören. Gute Ideen, um die Selbstbestimmung von Patient*innen zu stärken, müssen in die Umsetzung kommen. Wenn Expert*innen für IT-Sicherheit Zweifel an der technischen Umsetzung äußern, sollten ihnen maximale Kontrollmöglichkeiten durch volle Transparenz bei technischer Architektur und Quelltexten eingeräumt werden. Es gibt also noch viel Potenzial zur Verbesserung der „ePA für alle“, sobald konstruktive Vorschläge nicht mehr als vermeintliche Zögerlichkeit weggewischt werden.
Diskriminierung ist ein gesellschaftliches Problem
Gut gemachte digitale Systeme können Diskriminierungsrisiken minimieren. Selbst das beste technische Produkt verändert aber nicht die zugrundeliegenden politischen und sozialen Strukturen.
Diskriminierung im Gesundheitswesen ist tief darin eingeschrieben. Viele Menschen sind damit alltäglich konfrontiert. Sie erleben Diskriminierung nicht als theoretisches, vernachlässigbares Risiko, sondern als ganz konkrete, schmerzhafte Erfahrung.
Dass Menschen und Organisationen, die sich gegen Diskriminierung und Marginalisierung im Gesundheitswesen und darüber hinaus einsetzen, Ressourcen und Unterstützung brauchen, muss bei der Suche nach technischen Innovationen berücksichtigt werden, denn der Einsatz gegen Diskriminierung und für das Recht aller auf bestmögliche Gesundheit ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Auch dann, wenn es um die verspätete digitale Transformation geht.
Manuel Hofmann arbeitet als Referent für Digitalisierung bei der Deutschen Aidshilfe und beschäftigt sich mit der Digitalisierung des Gesundheitswesens. Er studierte Politikwissenschaft und Soziologie.