Jahre des Taktierens haben Spuren hinterlassen. Schon im Jahr 2003 kündigte die damalige Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) das Großprojekt einer elektronischen Patientenakte (ePA) an, in der eines Tages alle wichtigen medizinischen Daten des Versicherten abrufbar sein sollten. Das Projekt wurde in den darauffolgenden Jahren zum Milliardengrab. Zu oft zerstritten sich die Spitzen der Selbstverwaltung in Schaugefechten über Finanzierungsfragen und Zuständigkeiten. Zu gering waren die Anreize für Krankenkassen, Ärzte, Kliniken und andere Akteure, mitzuziehen und Pionierarbeit zu leisten.
Gut also, dass wir mit dem Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG) rund 15 Jahre später einen Gang höher schalten. Schließlich kann es nicht sein, dass die elektronische Patientenakte – ein E-Health-Kernprojekt – immer noch als Zukunftsmusik verstanden wird. Man muss sich nur einmal vor Augen führen, welchen Nutzen eine digitale, zu jeder Zeit verfügbare Gesundheitsakte hat.
Eine Akte, viele Vorteile
Bricht sich ein Urlauber in Bayern den Arm, wird im Krankenhaus ein Röntgenbild erstellt. Den Arzt in seiner Heimatstadt erreicht es aber in vielen Fällen nicht. Also macht der drei Tage später in Hamburg die gleiche Aufnahme. Ein zweites Mal.
Medizinisch ist das wenig sinnvoll, für den Patienten mühsam und für das System teuer. Eine digitale Patientenakte, auf der Röntgenbilder und Befunde gespeichert sind, kann das vermeiden. Auf einen Blick ist dann für den Arzt ersichtlich, welche Eingriffe und Untersuchungen beim Patienten in letzter Zeit durchgeführt wurden. So werden sinnlose Doppeluntersuchungen verhindert, Patienten und Wartezimmer entlastet.
Ein anderes Beispiel: Ältere Patienten verlieren schnell den Überblick, wenn sie über den Tag verteilt mehrere Medikamente einnehmen müssen – oftmals auf die Stunde genau getaktet. Der elektronische Medikationsplan wird hier Abhilfe schaffen, Patienten per App erinnern, gefährliche Falschdosierungen vermeiden helfen und auch pflegende Angehörige entlasten.
Diese digitale Entlastung wird auch dort spürbar werden, wo wichtige Dokumente sicher verwahrt werden müssen und nicht verloren gehen dürfen. Oder wissen Sie gerade, wo Ihr Impfpass, der Blutspendeausweis oder das Zahnbonusheft liegen? Dass solche Dokumente digital abrufbar werden, ist überfällig. In der Apotheke gilt das auch für das Rezept, das in Papierform hoffentlich bald ausgedient hat.
Noch immer sterben in Deutschland Menschen, weil lebenswichtige Daten wie die Blutgruppe, Allergien oder Vorerkrankungen im Notfall nicht rechtzeitig vorliegen. Der digitale Notfalldatensatz auf der Versichertenkarte wird mit diesen Informationen Leben retten – ein weiterer Grund, um der Digitalisierung von Patientendaten neuen Vortrieb zu leisten.
Datenschutz als Totschlag-Argument
Angesichts solcher Potenziale, die die Digitalisierung für unsere medizinische Versorgung birgt, erscheint die politische Debatte um Gesundheitsdaten paradox. Denn hier stand zuletzt nicht etwa der Nutzen der ePA im Mittelpunkt, sondern viel zu oft allein das Thema Datenschutz. Seit Jahren werden Bedenken und Ängste geschürt, die elektronische Patientenakte würde die Privatsphäre des Versicherten abschaffen und zum „gläsernen Patienten“ führen. Kritiker wollen die ePA deshalb noch auf der Zielgerade stoppen.
Unlängst führte das so weit, dass der Entwurf für das lange erwartete DVG im Bundeskabinett beinah Schiffbruch erlitten hätte. Dabei dürfen wir nicht vergessen: Wir müssen nicht nur die Daten schützen, sondern die Patienten. Aktuell droht das Totschlag-Argument des Datenschutzes die elektronische Patientenakte mit all ihren Vorteilen auszubremsen.
Daten retten Leben
Natürlich zählt Datenschutz zum Rückgrat eines digitalisierten Gesundheitswesens. Aber: Jahr für Jahr versterben Patienten, weil medizinische Daten ungenutzt bleiben, veraltet oder im Notfall schlicht nicht verfügbar sind. Daraus erwachsen Medikationsfehler, unvollständige Diagnosen und falsche Behandlungsentscheidungen. Daten können hier Leben retten. Datenschutz nicht.
Über Gesundheitsdaten sollten wir darum endlich chancengetrieben diskutieren. Gelingt uns das, wird auch das Digitale-Versorgung-Gesetz einen praxistauglichen Kompromiss zwischen Datenschutz und Datenverwendung zum Wohle des Versicherten finden – denn weitere 15 Jahre dürfen wir mit der digitalen Patientenakte nicht warten.
Der Magdeburger CDU-Bundestagsabgeordnete Tino Sorge sitzt seit 2013 im Gesundheitsausschuss und ist Berichterstatter seiner Fraktion für die Bereiche Digitalisierung und Gesundheitswirtschaft. Zudem ist er Mitglied in der Enquete-Kommission „Künstliche Intelligenz“ sowie im Ausschuss für Bildung, Forschung und Technologiefolgenabschätzung.