Eine der größten Gefahren der Digitalisierung ist, dass wir als Gesellschaft nicht selbst definieren, was unsere gesellschaftlichen Normen sind, sondern dass die Regeln unserer Zeit von einzelnen wenigen Unternehmen bestimmt werden. Mir fiel das zum ersten Mal 2009 auf. Damals änderte Facebook seine Standard-Einstellungen: Der empfohlene – und auch voreingestellte – neue Modus beim Posten war, dass Beiträge von Nutzern öffentlich sein sollten, somit für alle im Internet lesbar. Mark Zuckerberg erklärte das damals folgendermaßen: „Menschen haben sich daran gewöhnt, nicht nur mehr Information auf unterschiedliche Weise zu teilen, sondern das auch offener zu tun (...). Und wir haben uns entschieden, dass das jetzt die gesellschaftlichen Normen sind, und haben das umgesetzt.“
Mark Zuckerberg entschied also, dass öffentliches Posten die neue „gesellschaftliche Norm“ sei – und 350 Millionen Facebook-Mitglieder waren mit einem Schlag von dieser Änderung betroffen. Seit dieser Zeit begleitet mich ein Gedanke, den ich nun in meinem Buch „Übermacht im Netz“ ausführe: Wer gibt die Regeln in unserer digitalen Gesellschaft vor und haben wir als Bürger, als Staaten, als Europäische Union noch genügend Mitsprache?
Die Besonderheiten digitaler Geschäftsmodelle
Die Übermacht einzelner weniger marktbeherrschender IT-Konzerne baut auf Besonderheiten derzeitiger digitaler Geschäftsmodelle auf:
– Erstens die Informationsasymmetrie zwischen Benutzer und Anbieter, die dazu führt, dass (selbst gut informierte) Konsumenten nicht wirklich einschätzen können, welche Daten ihre Geräte und Apps im Hintergrund sammeln, geschweige denn, wie diese Daten dann verarbeitet werden.
– Zweitens wurde in Schlüsselmomenten enorme Machtkonzentration zugelassen. Facebook durfte den kleineren Konkurrenten WhatsApp kaufen, Google konnte das Werbe-Unternehmen DoubleClick schlucken, und somit unangefochtene Nummer 1 am Werbemarkt werden. Schon länger findet im Wettbewerbsrecht ein deutliches Umdenken statt – aber die Milch ist in vielen Fällen verschüttet.
– Drittens sind einige global agierende Konzerne, speziell Digitalkonzerne, darauf ausgerichtet, besonders stark steuerschonende Maßnahmen einzusetzen. Während der effektive Steuersatz bei Unternehmen mit klassischem Geschäftsmodell im Schnitt bei 23,2 Prozent liegt, zahlen Konzerne mit digitalem Geschäftsmodell durchschnittlich nur 9,5 Prozent, sagt die EU-Kommission. Weniger Steuern zu zahlen, hilft natürlich, zu wachsen und erfolgreich zu sein.
– Viertens spielt eben auch eine Rolle, wie Apps oder Geräte designt sind und welche Einstellungen als Normalzustand vorherrschen. Was standardmäßig auf den Geräten aktiviert ist, wird tatsächlich zur neuen gesellschaftlichen Normalität.
Menschliche „Trägheit“
Gehen wir exemplarisch auf die Bedeutung der Standard-Settings ein: Ökonomen nennen das menschliche „Trägheit“, dass wir oft vergessen, alle Einstellungen unserer Geräte zu überprüfen. Die Macht der Standard-Settings ist ein Vorteil der Hersteller gegenüber Konsumenten. Voreinstellungen ermöglichen es Google beispielsweise, Unmengen an Bewegungsdaten und Web-Aktivitäten zu sammeln.
Für mein Buch habe ich einen Versuch unternommen: Ich habe mir ein gebrauchtes Android-Handy zugelegt, die Daten gelöscht, das Gerät auf Werkseinstellungen zurückgesetzt und eine neue SIM-Karte gekauft. Dann habe ich das Smartphone aktiviert, einen Google-Account angelegt und alle Standard-Einstellungen akzeptiert. Einen Tag lang nutzte ich das Handy, fuhr durch die Stadt, surfte im Web. Am Ende hatte Google mir 29 Werbe-Interessen zugerechnet, etwa, dass ich mich für „Kochen und Rezepte“, „Haustiere“, „Politik“ und „Computerhardware“ interessiere. In den allermeisten Fällen lag Google richtig. Google weiß deshalb binnen 24 Stunden viel über einen Android-Benutzer – weil es sich standardmäßig das Recht einräumt, wichtige Daten wie Standortverlauf oder Web-Aktivitäten zu erfassen.
Digitalkonzerne betonen gerne, dass der Konsument auf vielen Ebenen das Datensammeln eingrenzen kann, dass man zum Beispiel auf https://myaccount.google.com den Standortverlauf „pausieren“ kann (so heißt das dort). Diese Opt-out-Möglichkeit klingt an sich gut. Aber genau betrachtet wird die Verantwortung für das enorme Datensammeln auf den einzelnen Internetnutzer abgeschoben – statt von vornherein das Datensammeln zu minimieren. Ich bin überzeugt: Wir werden erst dann richtige Privatsphäre haben, wenn der Schutz der Privatsphäre der Standardmodus ist. Und nicht etwas, wofür der Nutzer alle Settings durchforsten muss.
Eine Frage der Standard-Settings
Zwei gute Nachrichten gibt es: Es ist durchaus strittig, ob die bestehenden Standard-Settings stets rechtlich zulässig im Sinne der Datenschutzgrundverordnung sind – hier kann sein, dass der Europäische Gerichtshof ein Machtwort sprechen wird. Zweitens: Gerade im Wettbewerbsrecht nehmen Behörden, allem voran das deutsche Bundeskartellamt, die Macht der Defaults ernst – mein Vorschlag ist, wirklich bei jedem einzelnen marktbeherrschenden Digitalkonzern die Standard-Settings und deren Einfluss auf Konkurrenz und Konsument zu untersuchen. Hier können Wettbewerbsbehörden auch Auflagen machen. Noch mehr als das: Womöglich braucht es neue inhaltliche Rahmenbedingungen, was definitiv nicht von Vornherein der Normalmodus sein darf. Die Kommission Wettbewerbsrecht 4.0 empfahl erst dieser Tage, eine Verordnung für marktbeherrschende Plattformen einzuführen – und ihnen bestimmte Verhaltensregeln aufzuerlegen. Gerade die Frage der Standard-Settings wäre hier interessant.
Es geht nicht nur um ein paar Settings irgendwo im Internet, sondern um etwas Grundsätzliches: Wenn User im Umgang mit Geräten jedes einzelne Mal merken, der Normalmodus ist, dass das eigene Handy einen trackt, dass der eigene Standort erfasst wird, dann wird als neue Normalität empfunden werden, dass das halt so ist im Netz. Die Standard-Settings sind nur ein kleines Detail, ein Puzzlestein im großen Bild, wie Digitalkonzerne unsere Gesellschaft und die Regeln in unserer Gesellschaft prägen. Aber wenn uns das Gesamtbild des heutigen Internets nicht gefällt, müssen wir bei genau solchen Puzzlesteinen ansetzen.
Ingrid Brodnig ist österreichische Publizistin und auf die gesellschaftliche Auswirkung der Digitalisierung spezialisiert. 2017 wurde sie von der österreichischen Bundesregierung zur digitalen Botschafterin (Digital Champion) Österreichs in der EU ernannt. Am 16. September erscheint ihr neues Buch „Übermacht im Netz. Warum wir für ein gerechtes Internet kämpfen müssen“ (Brandstätter Verlag).