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Energie & Klima

Standpunkte Corona- und Klimakrise – auf exponentiell wachsende Krisen sinnvoll reagieren

Christoph Bals, Politischer Geschäftsführer von Germanwatch
Christoph Bals, Politischer Geschäftsführer von Germanwatch Foto: Germanwatch

Zur Bewältigung der Coronakrise ist eine Doppelstrategie notwendig: Vermeiden, dass Kipppunkte überschritten werden. Und die Widerstandsfähigkeit der Gesellschaft stärken. Beides gilt auch für die Bewältigung der Klimakrise, schreibt Christoph Bals, Politischer Geschäftsführer von Germanwatch. Fatal wäre es, wenn die Strategie zur Bekämpfung der Coronakrise die Klimakrise befeuern würde.

von Christoph Bals

veröffentlicht am 16.04.2020

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Am Anfang wuchsen die Fallzahlen ganz langsam, dann explodierten sie – die Coronakrise ist ein Lehrbeispiel dafür, wie Kurven exponentiell wachsender Krisen aussehen. Die Kurven in den unterschiedlichen Ländern verdoppelten sich unterschiedlich schnell – alle 3, 5, 10 oder 20 Tage. Dieses Tempo ist entscheidender Faktor für die Entwicklung der Zahl der Kranken und Toten in der Coronakrise. Dieses Anstiegstempo massiv zu verringern und dann auf Null zu drücken, ist auch zentral für die Entwicklung der CO2-Konzentrationen und des globalen Temperaturanstiegs bei der Klimakrise. Und die Coronakrise zeigt exemplarisch, welche Doppelstrategie notwendig ist, um exponentiell wachsende Krisen einzudämmen. 

Erster Teil der Strategie ist es, die Kurve massiv abzuflachen („Flatten the Curve“). Es geht darum, das Unbewältigbare zu vermeiden. Es gilt zu verhindern, dass irreversible Kipppunkte überschritten werden, die menschenwürdige Lösungen kaum noch möglich machen. Ein irreversibler Kipppunkt bei der Coronakrise sind etwa die Kapazitäten der Intensivbetten im Gesundheitssystem. Werden die Ausgangs- oder Kontaktbeschränkungen nicht konsequent genug durchgehalten, steigt ab diesem Kipppunkt die Zahl der Toten – auch relativ zu den Erkrankten –  massiv an.

Auch bei der Klimakrise besteht das Risiko des Überschreitens irreversibler Kipppunkte des Erdsystems – etwa sich selbst beschleunigende Schmelz-Dynamiken in Grönland und der Antarktis, das Umkippen des Amazonasregenwaldes, des indischen Monsuns oder des Nordatlantikstroms.

Mindestens ganze Kontinente würden dann in eine existenzielle Krise geraten – bei den meisten dieser Kipppunkte im Vergleich zur Pandemie allerdings in Zeitlupe. Um das Überschreiten dieser Kipppunkte zu vermeiden, hat das Pariser Klimaabkommen festgelegt, den globalen Temperaturanstieg möglichst auf 1,5 Grad zu begrenzen. Der von der EU-Kommission vorgeschlagene Europäische Green Deal nähert sich der Umsetzung dieses Abkommens zumindest an. 

Stärkung der Gesellschaft nach Coronakrise darf Klimakrise nicht befeuern

Der zweite Teil der Strategie gegen exponentiell wachsende Krisen ist es, das Unvermeidbare zu bewältigen. Selbst wenn das Eindämmen der Krise unterhalb der Kipppunkte gelingt, muss die Widerstandsfähigkeit (Resilienz) der Gesellschaft so gestärkt werden, dass sozial und ökonomisch die dennoch absehbaren oder bereits eingetretenen Schäden bewältigt werden können.

Wenn bei der Coronakrise nicht mehr medizinische Nothilfe und Liquiditätsunterstützung im Zentrum stehen, wenn die Wirtschaft nicht mehr heruntergefahren, sondern angeschoben werden soll, dann geht es darum, Konsum und Investitionen in massiver Weise anzukurbeln – und zwar so, dass es die Fähigkeit zur Bewältigung dieser und künftiger Krisen der Gesellschaft steigert. In der Klimadebatte wird dieser Teil der Strategie zum Aufbau resilienter Strukturen als Strategien für Anpassung und „Schäden und Verluste“ diskutiert. 

Es wäre nun aber fatal, wenn der zweite Teil der Strategie zur Stärkung der Resilienz nach der Coronakrise das exponentielle Wachstum der Klimakrise weiter beschleunigen würde – so, dass deren Eindämmung unterhalb der Kipppunkte unmöglich gemacht würde. Dies könnte geschehen, wenn durch die kommenden gewaltigen Investitionspakete viele mittel- oder sogar langfristig CO2-intensive Strukturen – Gebäude, Heizungen, Neuanlagen der Industrie, Autos mit Verbrennungsmotor usw. – in den Markt geschoben würden. 

Zum Glück aber lässt sich die Bewältigung des Unvermeidbaren bei der Coronakrise mit der Vermeidung des Unbewältigbaren bei der Klimakrise verzahnen. Einerseits gilt es, große Pakete für den klimaverträglichen Umbau etwa der Gebäude, des Mobilitätssektors, der Digitalisierung und der Industrie und die Unterstützung innovativer Start-ups auf den Weg zu bringen. Für alle anderen Pakete muss gelten: diese Investitionen dürfen den Klimazielen und den UN-Nachhaltigkeitszielen zumindest nicht zuwiderlaufen.  

Welchen Formwandel vollzieht die Gesellschaft?

Eine solche Strategie der doppelten Krisenbekämpfung kann nicht an den eigenen Grenzen haltmachen. Es ist im wohlverstandenen Eigeninteresse Deutschlands, dass die Umsetzung beider Teilstrategien überall gelingt. Deshalb muss nun einerseits europäische Solidarität und Kooperation im Zentrum stehen. 

Andererseits müssen die EU und ihre Einzelstaaten in der G20 bzw. in der G7 durch ihren Einfluss beim Internationalen Währungsfonds und in den Entwicklungsbanken auch einen globalen Marschallplan auf den Weg bringen, der mit der Umsetzung der globalen Nachhaltigkeits- und Klimaziele verzahnt ist. 

Es ist nach solchen Krisen mit exponentiellem Verlauf zu erwarten, dass die Weltgemeinschaft auf einen Verzweigungspunkt zuläuft, ab dem sich dann ein sich selbst verstärkender Formwandel in die eine oder andere Richtung vollzieht.

Werden die Demokratien oder autoritäre Staaten gestärkt aus der Krise hervorgehen? Wird sich zeigen, dass die Achtung und Durchsetzung der Menschenrechte die Möglichkeiten der Krisenbewältigung deutlich verbessert oder werden die Menschenrechte als Schönwetterveranstaltung abgehakt? Wird sich die Notwendigkeit von wissens(schafts)basiertem Handeln für solche Großherausforderungen weiter etabliert haben oder triumphiert populistisches Agieren? Gelingt es, einen solidarischen Marschallplan in der EU und weltweit zu organisieren – und damit eine neue Blüte der EU und des Multilateralismus zu initiieren – oder werden diese Institutionen sich als unfähig zu solidarischen und kooperativen Lösungsansätzen entpuppen und massiv an Bedeutung verlieren, oder gar verfallen? 

Wir leben – wie etwa in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg – in Zeiten, in denen sich eine neue Weltordnung oder -unordnung strukturiert. Die deutsche Regierung, demnächst auch in der Rolle der EU-Präsidentschaft, kann nun entscheidende Impulse – hoffentlich in die eine und nicht in die andere Richtung – setzen. 

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