Die EU-Kommission hat eine „Verordnung für einen Rahmen zur Erreichung von Klimaneutralität“ vorgeschlagen, so der sperrige Titel. Die politische Debatte spricht nur vom EU-Klimaschutzgesetz – in Anlehnung an die nationalen Klimaschutzgesetze, die mittlerweile in 17 EU Mitgliedsstaaten gelten oder vor der Annahme stehen. Das europäische Gesetz soll ein Meilenstein auf Europas Weg hin zu Klimaneutralität sein. Also: Wie ist der Vorschlag der Kommission zu bewerten?
Das Gesetz legt eindeutig und rechtlich verbindlich das Ziel der Reise fest: Bis 2050 wird die EU klimaneutral. Dann muss die Treibhausgasbilanz der EU netto null sein – jede emittierte Tonne Treibhausgase muss der Atmosphäre wieder entzogen werden. Dies ist ein großer Fortschritt. Ein weiterer: Nach 2050 soll die EU sogar negative Emissionen erreichen, das heißt in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts muss die EU mehr Treibhausgase aus der Atmosphäre entnehmen als sie emittiert. Dies ist ein zentraler Punkt, da nur mit negativen Emissionen der Temperaturanstieg global deutlich unter zwei Grad Celsius gehalten werden kann.
Reduktionspfad als „delegierter Rechtsakt“ mit Zwischenzielen
Eine andere Erneuerung kommt technisch daher, hat es aber in sich: Die Kommission soll das Recht bekommen, den EU-Reduktionspfad künftig in einem sogenannten delegierten Rechtsakt festzulegen. Konkret bedeutet dies, dass die Kommission Zwischenziele für die EU bis 2050 festlegt. Bei dieser Entscheidung muss die Kommission einige Kriterien beachten, wie etwa Kosteneffizienz, Wettbewerbsfähigkeit und neueste klimawissenschaftliche Erkenntnisse. Nur wenn eine Mehrheit der Mitgliedsstaaten oder das Europäische Parlament gegen diese Entscheidung stimmen, kann die Kommission den EU Reduktionspfad nicht festlegen.
Dieser Vorschlag hat Licht und Schatten. Auf der einen Seite hat er den Charme, dass die oft schmerzhaften Verhandlungen über EU-Reduktionsziele der Vergangenheit angehörten. Diese Praxis hat oft mehr Klimaschutz verhindert. Auf der anderen Seite ist unklar, wie sich die Festlegung des Reduktionspfads durch die Kommission auf die Zukunft des Emissionshandels und der EU-Klimaschutzverordnung nach 2030 auswirkt: Dienen die anstehenden Reformen des EU-Sekundärrechts allein der Umsetzung der von der Kommission festgelegten Reduktionsanforderungen? Es stellt sich auch die Frage, ob die Kommission etwas derart Wichtiges wie einen EU-Reduktionspfad durch delegierte Rechtsakte festlegen darf.
Trotz dieser positiven Elemente weist der Vorschlag Lücken auf, die im weiteren Gesetzgebungsverfahren geschlossen werden sollten.
Die erste Lücke betrifft Compliance. Wie stellt das Klimaschutzgesetz sicher, dass die EU und ihre Mitgliedsstaaten tatsächlich bis 2050 klimaneutral werden? Die Kommission schlägt vor, dass die EU und Mitgliedsstaaten das Ziel Klimaneutralität bis 2050 kollektiv erreichen. Zeichnet sich ab, dass die EU und ihre Mitgliedsstaaten nicht auf dem Weg zu Klimaneutralität sind, gibt die Kommission den betroffenen Mitgliedsstaaten Empfehlungen. Die Mitgliedsstaaten müssen diese Empfehlungen nicht umsetzen. Tun sie es nicht, müssen sie nur öffentlich begründen, warum sie von den Empfehlungen der Kommission abweichen.
Für sich allein ist dies ein schwaches System. Ein vergleichbares Vorgehen zur Überprüfung der Umsetzung der Energieunion hat bisher zu ernüchternden Ergebnisse geführt. Deshalb darf das neue Verfahren nur ergänzend zum geltenden System verbindlicher Reduktionsziele für jeden Mitgliedsstaat eingeführt werden und darf es nicht ersetzen. Die EU kann kollektiv nur bis 2050 klimaneutral werden, wenn individuell alle Länder verbindliche Beiträge liefern müssen.
Kein europäisches Ziel für 2030 und 2040
Die zweite Lücke: Klimaneutralität bis 2050 bezieht sich auf einen langen Zeitraum. Aus diesem Grund sind strenge und rechtlich verbindliche Zwischenziele von großer Bedeutung. Der Kommissionsvorschlag enthält ein Verfahren zur Festlegung des Reduktionspfads, aber kein EU-Ziel für 2030 und 2040. Stattdessen gibt es den Auftrag an die Kommission, eine Anhebung des gegenwärtigen 2030 Ziels von 40 Prozent auf 50 Prozent oder 55 Prozent bis September 2020 zu prüfen. Im weiteren Verfahren sollten klare Reduktionsziele für 2030 und 2040 in das Gesetz aufgenommen werden.
Die dritte Lücke betrifft Emissionsbudgets. Für das Klima ist die Konzentration von Treibhausgasen in der Atmosphäre entscheidend. Die atmosphärische Konzentration wiederum hängt von der Menge der Gesamtemissionen oder einem Emissionsbudget ab. Im Vorschlag findet sich jedoch keine Gesamtmenge zulässiger Emissionen. Das Emissionsbudget der EU bis 2050 ließe sich zwar berechnen, wenn die EU ihr Ziel für 2030 und den Reduktionspfad bis 2050 festgelegt hat. Aber das System bleibt intransparent – nur Experten verstehen, welche Emissionsmengen sich aus Zieljahren, Reduktionspfaden und Sonderregeln ergeben. Der Anteil der EU an den verbleibenden globalen Emissionen wird damit verschleiert.
Viertens lässt der Vorschlag offen, wie die EU zu negativen Emissionen kommen will, und welche Technologien dafür Verwendung finden. Um ein nachhaltiges Vorgehen zu sichern, sollte das Klimaschutzgesetz klar benennen, dass vor allem die Wiederherstellung beschädigter Wälder und Moore zentrale Bausteine für negative Emission sein werden.
Die fünfte Lücke betrifft Institutionen. Unabhängige und starke Institutionen sind beim Klimaschutz zentral, weil es sich dabei um einen Langstreckenlauf handelt, Regierungen sich aber oft auf den Sprint zur nächsten Wahl konzentrieren. Länder mit einer robusten Klimapolitik haben deshalb häufig unabhängige und starke Gremien, die eine Schlüsselrolle bei der Bekämpfung der Klimakrise spielen.
Mit dem
Vorschlag für ein europäisches Klimaschutzgesetz setzt die Kommission ein unmissverständliches Zeichen für
langfristigen Strukturwandel. Das Klimaschutzgesetz allein enthält nicht
die magische Formel für Klimaneutralität bis 2050 – diese Formel setzt sich aus
vielen Einzelmaßnahmen zusammen –, aber ein robustes Gesetz muss einige Lücke
schließen.