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Energie & Klima

Standpunkte Kernkraftwerke für den Klimaschutz? Eine unideologische Antwort

Thomas Unnerstall, selbstständiger Autor und Berater
Thomas Unnerstall, selbstständiger Autor und Berater Foto: Privat

Welchen Nutzen hätte eine Laufzeitverlängerung für die sechs verbleibenden Kernkraftwerke in Deutschland? Der Berater Thomas Unnerstall nimmt in seinem Standpunkt die konkreten Auswirkungen unter die Lupe. Sein Fazit: Die Meiler in Betrieb zu halten würde Klimaschutz und Versorgungssicherheit kurzzeitig helfen, hat aber nur begrenzte Effekte und einen zu hohen politischen Preis.

von Thomas Unnerstall

veröffentlicht am 02.11.2021

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In jüngster Zeit mehren sich die Stimmen, die für eine Verlängerung der Laufzeit der sechs noch am Netz befindlichen Kernkraftwerke in Deutschland plädieren. Zwei Gründe werden dafür ins Feld geführt: Zum einen der Klimaschutz, zum anderen – vor dem Hintergrund des beschlossenen Kohleausstiegs – die Versorgungssicherheit im Stromsektor.

Leider wird diese Diskussion oft eher ideologisch als sachlich geführt, und zwar von Befürwortern wie Gegnern gleichermaßen. Die einen sehen in der Kernkraft nachgerade die Rettung der Energiewende, die anderen ihren Untergang. Wie sieht demgegenüber eine auf nüchterner Analyse beruhende Antwort aus?

Die Diskussion kommt zu spät

Zunächst ist zu sagen, dass diese Diskussion fünf Jahre zu spät kommt. Jetzt ist der „Point of no return“ eigentlich überschritten: Die Betreiber der Kernkraftwerke haben sich auf das Ende der Reaktoren vorbereitet, unter anderem haben sie Unternehmensstrategien und Investitionsmittel umgeleitet, das Fachpersonal hat sich neu orientiert, die Brennstofflieferungsverträge laufen aus.

Lässt man diesen Punkt beiseite und nimmt an, diese Entwicklungen ließen sich – inklusive notwendiger Revisionsarbeiten – in einem Zeitraum von zwei Jahren rückgängig machen, das heißt die sechs Kernkraftwerke mit zusammen etwa 8000 Megawatt (MW) Leistung stünden ab 2024 zur Verfügung, stellt sich folgende Frage: Welche Folgen hätte es, wenn Deutschland diese Kernkraftwerke noch 15 bis 20 Jahre (das heißt bis zu einer Lebensdauer von 50 Jahren) weiterlaufen lassen würde?

I. Versorgungssicherheit

Der notwendige Ausbaupfad für PV und Wind wird nicht wesentlich tangiert, weil unverändert ab 2040 bis 45 ein Stromsystem in Deutschland etabliert sein muss, dass ohne Kernenergie CO2-frei operiert. Denn ein System mit dauerhafter Nutzung der Kernenergie steht außerhalb der Betrachtung dieses Beitrags, da dies den Neubau von Kernkraftwerken erfordern würde und damit – unabhängig von politischen Mehrheiten – inhaltlich ganz andere Fragestellungen involviert wären.

Für die Aufrechterhaltung der Versorgungssicherheit beim Kohleausstieg ist die Kernenergie nicht erforderlich, solange genügend andere regelbare Leistung oder Nachfrage zur Verfügung steht. Dies ist allerdings eine große – und im politischen Diskurs bisher unterschätzte – Herausforderung: Um aus der Kohleverstromung aussteigen zu können, müssen mindestens 30.000 MW Gaskraftwerke gebaut werden, um die Versorgungssicherheit im Stromsystem zu gewährleisten.

Der Zeitbedarf für diesen Zubau (beziehungsweise des Wechsels von Kohle auf Gas in bestehenden Kraftwerken) bestimmt den möglichen Zeitpunkt des Kohleausstiegs, unabhängig von politischen Wunschvorstellungen. Die 8000 MW Kernkraftwerke würden diese Notwendigkeit temporär auf 22.000 MW reduzieren, das heißt den Kohleausstieg bei gleicher Versorgungssicherheit erleichtern und beschleunigen.

II. CO2-Einsparung

Die zentrale Frage ist damit, wieviel CO2 durch diese Maßnahme eingespart würde. Bei der Analyse sind zwei Aspekte entscheidend:

1. Wie sieht die von den regelbaren Kraftwerken abzudeckende Residuallast (die Stromnachfrage abzüglich der Erzeugung der erneuerbaren Energien) im relevanten Zeitraum aus?

2. Wie sieht die Merit Order unter den fossilen Kraftwerken aus, welche Kraftwerke würden also durch die weiterlaufenden Kernkraftwerke (die in jedem Fall ganz unten in der Merit Order stehen) konkret verdrängt?

Geht man von den bis 2030 weitgehend gleichlautenden Strom-Szenarien der neuesten Studien (DENA, BDI, Agora Energiewende) aus, so wird die Residuallast im Jahr 2030 – insbesondere wenn man noch „must run – Kapazitäten“ von zehn bis 15 Gigawatt annimmt – eine Laufzeit der Kernkraftwerke von maximal 5000 Stunden pro Jahr erlauben. Dies gilt für die Inlandsnachfrage; eventuell können die Kraftwerke für den Export länger laufen.

Dies ist eigentlich schon grenzwertig, da Kernkraftwerke rein technisch nicht für einen solchen Mittellastbetrieb konzipiert sind. In den 2030er Jahren dann müssten sie zunehmend als Spitzenlastkraftwerke betrieben werden, was technisch und auch ökonomisch nicht sinnvoll ist – hier sind Gaskraftwerke weit überlegen, die mit Blick auf die Zeit nach 2040 ohnehin gebaut werden müssen und ab 2035 durch den zunehmenden Einsatz von Wasserstoff sukzessive CO2-frei werden.

Fazit zur Residuallast: Die sechs Kernkraftwerke wären nur begrenzt in das zukünftige Stromsystem integrierbar, mit sukzessive sinkenden Laufzeiten beziehungsweise sinkenden Beiträgen zur Stromnachfrage in Deutschland.

Nun zur Verdrängung in der Merit Order: Die neuen Klimaziele der EU werden voraussichtlich dazu führen, dass in der zweiten Hälfte dieses Jahrzehnts CO2-Preise im ETS von 80 bis 100 Euro pro Tonne erreicht werden, so dass sich die Gaskraftwerke in der Merit Order vor die Kohlekraftwerke schieben. Man kann daher davon ausgehen, dass im Jahr 2030 die Kohlekraftwerke nur 1000 bis 2000 Stunden pro Jahr laufen werden, auch dies zeigen die oben genannten Studien.

Auf dieser Basis kann man abschätzen, welche Gas- und welche Kohlemengen durch die Kernkraftwerke in den einzelnen Jahren verdrängt werden, das heißt welcher CO2-Effekt erreicht wird. Ergebnis: Es sind bis 2030 rund 200 Millionen Tonnen, danach dann maximal 100 Millionen Tonnen. Im Jahr 2030 liegt die CO2-Einsparung lediglich bei 20 bis 25 Millionen Tonnen.

Die Einsparung liegt also in der Größenordnung von drei bis vier Prozent des gesamten CO2-Budgets bis 2045; zur Zielerreichung für 2030 – Einsparung von etwa 360 Millionen Tonnen CO2 gegenüber heute in der jährlichen Betrachtung – würde die Maßnahme fünf bis sieben Prozent beitragen.

Schlussfolgerungen

Die sechs Kernkraftwerke weiterlaufen zu lassen, würde dem Klimaschutz und der Gewährleistung der Versorgungssicherheit vorübergehend helfen, aber es wäre alles andere als „kriegsentscheidend“; die Wirkung wäre vielmehr ziemlich begrenzt. Auf keinen Fall lohnt es sich angesichts dieser Zahlen, die hohe politische Kraftanstrengung, die ein solcher Ausstieg vom Ausstieg vom Ausstieg vom Ausstieg bedürfte, tatsächlich darauf zu verwenden: Andere Hebel sind für die Erreichung der Klimaschutzziele ungleich wichtiger.

Ausblick

Ohnehin entscheidet sich der Erfolg Deutschlands beim Klimaschutz nicht beim Thema Strom – so oder so werden wir es sicherlich schaffen, bis 2040 ein weitgehend CO2-freies Stromsystem zu etablieren. Der Erfolg entscheidet sich wahrscheinlich auch nicht beim Thema Verkehr – der Siegeszug der E-Autos hat längst begonnen und wird aus heutiger Sicht auch in der nötigen Geschwindigkeit erfolgen.

Das Erreichen der Klimaziele entscheidet sich vielmehr in erster Linie beim ungleich komplexeren Thema Wärme –  bei der Frage, ob wir die sehr heterogen Industrieprozesse und die 20 Millionen Heizungen in Deutschland in den nächsten 25 Jahren dekarbonisiert bekommen oder nicht. Es wäre sinnvoll, wenn Politik und Gesellschaft die Kräfte beim Klimaschutz vor allem auf diese Herausforderung richten würden.

Thomas Unnerstall ist seit 2016 selbständiger Berater, Autor und Redner. Von 2010 bis 2016 war er Vorstand für den Bereich Markt bei der N-Ergie Nürnberg, zuvor Geschäftsführer bei den Stadtwerken Karlsruhe.

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