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Energie & Klima

Standpunkte Ohne neue Gaskraftwerke droht eine Versorgungslücke

Timm Kehler, Geschäftsführer von Zukunft Erdgas
Timm Kehler, Geschäftsführer von Zukunft Erdgas Foto: Zukunft Gas

Das aktuelle Strommarktdesign gibt Investoren keinen Anreiz, in Kraftwerkskapazitäten zur Sicherung der Versorgung bei „kalter Dunkelflaute“ zu investieren, bemängelt Timm Kehler, der Geschäftsführer des Gas-Interessenverbands „Zukunft Erdgas“. Die Politik dürfe sich einer Debatte darüber nicht entziehen, schreibt er.

von Timm Kehler

veröffentlicht am 02.03.2020

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Die Energiewirtschaft in Deutschland steht in dieser Dekade vor gewaltigen Herausforderungen: Der Ausstieg aus der Kernenergie wird vollendet und auch der Abschied von der Kohle wird in den kommenden Jahren an Fahrt gewinnen. Allein bis Ende 2022 gehen rund neun Gigawatt an Kernenergie vom Netz. Bis 2030 werden sich ihr weitere neun Gigawatt an Braunkohle anschließen. Auch die Steinkohle wird folgen. Gleichzeitig soll der Anteil der Erneuerbaren am Strommix in den nächsten zehn Jahren auf 65 Prozent steigen.

Der Umbau hin zu einem grünen Stromsystem ist also in vollem Gange. Vernachlässigt wird dabei jedoch meist die Frage nach der Versorgungssicherheit. Denn so wichtig und richtig die Veränderungen im Strommarkt für eine grüne Energiezukunft sind, so problematisch sind sie für die Sicherheit der Stromversorgung. Strom muss auch zukünftig zu jeder Tages- und Nachtzeit zur Verfügung stehen – eben auch dann, wenn die Sonne nicht scheint und der Wind nicht weht. Dafür braucht es regelbare Energie. Regelbare Kraftwerke stellen aktuell 101 Gigawatt an Leistung bereit, davon gehen bis 2030 jedoch 36 Gigawatt vom Netz. Gleichzeitig ist der Zubau neuer Anlagen derzeit noch vernachlässigbar gering. Wenn jetzt nicht gehandelt wird, sieht sich Deutschland damit in wenigen Jahren mit Stromengpässen konfrontiert. 

Um einer Versorgungslücke zu entgehen, muss zusätzliche, flexibel einsetzbare Leistung installiert werden, welche die stillgelegten Atom- und Kohlekraftwerke ersetzt. Damit diese die der Stromwende zugrundeliegenden Klimaschutzbestrebungen nicht konterkariert, muss auch der regelbare Strom möglichst CO2-arm werden. Gaskraftwerke eignen sich hierfür besonders gut, denn sie emittieren derzeit im Schnitt 70 Prozent weniger CO2 als Braunkohlekraftwerke. In Zukunft können sie durch einen steigenden Anteil an Wasserstoff selbst immer grüner werden. Zudem können sie binnen weniger Minuten hoch- und runtergefahren werden und damit die fluktuierende Einspeisung der Erneuerbaren ideal ergänzen.

Brennpunkt Süddeutschland

Insbesondere in Süddeutschland drängt die Zeit: Hier werden allein durch den Ausstieg aus der Kernenergie bis 2023 mehr als vier Gigawatt an regelbarer Leistung stillgelegt. Und da der Stromnetzausbau kaum vom Fleck kommt, bleibt auch die Distanz zu den windanlagenreichen norddeutschen Ländern auf absehbare Zeit ein unüberwindbares Hindernis. Die Bundesnetzagentur weiß um die Problematik und hat bereits vor über zwei Jahren 1,2 Gigawatt an flexibler Leistung für Bayern und Baden-Württemberg ausgeschrieben, wovon sie jedoch erst die Hälfte vertraglich sichern konnte.  

Zwar ist der Zeitdruck im Rest der Republik geringer als in Süddeutschland, dennoch müssen auch hier bald die Weichen für den Zubau regelbarer Leistung gestellt werden, wenn Engpässe vermieden werden sollen. Wie groß der Zusatzbedarf ist, zeigt eine aktuelle Studie des Energiewirtschaftlichen Instituts der Universität zu Köln (EWI) im Auftrag von Zukunft Erdgas. Demnach wird der Bedarf an regelbarer Leistung bis 2030 auf 114 Gigawatt steigen. Sollte die Strom-Spitzenlast bis dahin ebenfalls auf das gleiche Niveau steigen, was angesichts der steigenden Elektrifizierung anderer Sektoren zu erwarten ist, würde laut EWI so eine Backup-Lücke von bis zu 45 Gigawatt entstehen. 

Im aktuellen Strommarktdesign – dem Energy-Only-Markt – bilden sich Preise ausschließlich aus Angebot und Nachfrage der tatsächlichen Stromerzeugung. Die vorgehaltene Kapazität der Kraftwerke, die zur Absicherung von Engpasssituationen erforderlich ist, wird in diesem System jedoch nicht vergütet. Investoren haben daher keinen Anreiz, in Kraftwerkskapazitäten zu investieren, die zur Sicherung der Versorgung auch bei „kalter Dunkelflaute“ bereitstehen. 

Debatte über Ergänzung des Energy-Only-Marktes nötig

Neben der Versorgungssicherheit liefern Kraftwerke, die regelbare Leistung vorhalten, auch systemrelevante Dienstleistungen. Dazu zählen die Blindleistung – eine regionale kontinuierliche Frequenz zur stabilen Stromübertragung – sowie die Schwarzstartfähigkeit. Mit Letzterer ermöglichen Anlagen die Wiederaufnahme des Netzbetriebes nach einem Stromausfall. Auch diese Systemdienstleistungen werden im aktuellen Strommarktdesign nicht vergütet.

Die aktuelle Lage zeigt: Der Energy-Only-Markt reicht nicht aus, um das hohe Niveau an Versorgungssicherheit zu garantieren. Um den Zubau der bis 2030 dringend benötigten zusätzlichen Gaskraftwerke anzureizen, müssen daher flankierende Mechanismen ins aktuelle Marktdesign integriert werden. Die Politik darf sich vor dieser Debatte nicht wegducken.

Und auch die nächste Aufgabe drängt: Bis 2050 muss auch das Gas in unseren Kraftwerken vollständig grün werden. Deshalb müssen wir jetzt anfangen, die Weichen für eine Zukunft zu stellen, in der Gaskraftwerke mit Wasserstoff betrieben werden können.

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