Standpunkte Deutschlands Weg zur digitalen Bevölkerungsmedizin

In Deutschland knirscht es – und das nicht erst seit den Wahlen. Dabei mangelt es an Erkenntnis nicht: Challenges wie Klimawandel, Verwaltungsbürokratie, staatlicher Reformstau und fehlende Antworten auf Migration oder Rentensicherheit wirken sich aus auf die Handlungsfähigkeit des Gesundheitssystems. Das Verdecken behandlungsbedürftiger Wunden hat Konsequenzen, die sich auf Stimmungsbild und Wahlergebnisse niederschlagen, schreiben Mesut Yavuz und Nicolai Savaskan.
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Jetzt kostenfrei testenUm sich die Verfasstheit unserer Gesundheitsversorgung vor Augen zu führen, sollten diese Zahlen alarmieren: Deutschland betreibt nach den USA den teuersten Gesundheitssektor. Dieser ist gekennzeichnet von gesundheitlicher Ungleichheit und, im Vergleich zu westlichen Nachbarstaaten, niedrigerer Lebenserwartung. So erfahren Menschen in infrastrukturell benachteiligten Regionen geringere Einkommen, erkranken häufiger an vermeidbaren chronischen Leiden und sterben bis zu zehn Jahre früher als Menschen mit höheren Einkommen. Die Covid-19-Pandemie hat diese Gesundheitskluft weiter vergrößert. Zudem schlägt sich der Einfluss der politischen Polarisierung auf die Gesundheit des Einzelnen und ganzer Gruppen nieder.
Damit liegen wichtige Determinanten außerhalb der individuellen Krankenversorgung. Hier sind nun staatliche Einrichtungen wie der öffentliche Gesundheitsdienst (ÖGD) mit seinen Gesundheitsämtern und bevölkerungsmedizinischen Institutionen in der Pflicht. Die finanzielle Förderung des ÖGD mit seinen 376 Gesundheitsämtern sah genau dies vor. Und da der ÖGD dem demografischen Wandel genauso stark unterliegt wie alle anderen Lebensbereiche in Deutschland, wurde vom 4-Milliarden-Euro-Pakt 800 Millionen Euro in die digitale Anschlussfähigkeit des ÖGD investiert.
Gelingensbedingungen für öffentliche Gesundheit
Die Erkenntnis, dass zur Operationalisierung einer neuen Bevölkerungsmedizin Gesundheitsämter digital befähigt und an die ambulante und stationäre Versorgung sowie an seine Bürger:innen angebunden sein müssen, hatte im Prinzip schon der Sachverständigenrat Gesundheit 2009 festgestellt. Gelingensbedingungen für einen digitalen ÖGD liegen in der barrierefreien Zusammenarbeit mit ambulanter, stationärer, rehabilitativer Versorgung sowie der Zivilgesellschaft. Und die gab es mal bei der Tuberkulosebekämpfung, der Hygiene des Trinkwassers oder beim Tabak- und Alkoholkonsum. Wie kann heute also an diese Erfolgsgeschichten der ‚digitale ÖGD‘ anknüpfen?
Dazu lässt sich erst einmal feststellen, dass im Stile des TV-Formats „Shopping Queen“ Fördermittel für Wünsch-dir-was an Software in 16 Bundesländern nicht klappen werden. Ein neues Softwareprogramm macht das Arbeiten nicht plötzlich effizienter und schneller, so wie ein Kutscher nicht schneller fährt als die Eisenbahn, nur weil seine Kutsche einen frischen Farbanstrich bekommen hat. Es ist allenfalls ein kosmetisches Upgrade, das an den Gelingensbedingungen von erfolgreicher Digitalisierung vorbeizieht. Spürbare Erleichterung der Arbeitsprozesse für Mitarbeitende in Gesundheitsbehörden, Antworten auf den schon jetzt bestehenden Fachkräftemangel verlangen nach kollaborativen Strukturen, technologischer Offenheit für Künstliche Intelligenz und dem Ende von isolierten Insellösungen. Wie lässt sich das erreichen?
Zentrale Leitplanken und dezentrale Stärkung
Was im ersten Moment widersprüchlich klingt, erweist sich als Rückbesinnung auf unsere bundesrepublikanische DNA: Zentrale Leitplanken auf Bundesebene und Rückverlagerung von Kompetenzen auf kommunaler Ebene, also an jene Orte, wo ÖGD sich in den Lebenswelten der Bürger:innen entfaltet.
Nachhaltige Verbesserungen der Gesundheit bedürfen des Zusammenspiels verschiedener Politikbereiche (Gesundheit in allen Politikfeldern). Es sind also ressortübergreifende Strukturen unverzichtbar. Warum sollte das als Bundesinstitut für Öffentliche Gesundheit (BIÖG) umbenannte BZgA nicht gleich unter einem Dach mit anderen Bundesinstituten wie dem Robert Koch-Institut, dem Umweltbundesamt und dem Bundeszentrum für Ernährung und weiteren föderalen Einrichtungen organisiert sein? Hier hat der Bund es selbst in der Hand, sich von Ressortsilos und reinen Verhandlungsmassen für Koalitionen freizumachen und zu beweisen, dass es um die Sache und nicht um politische Pfründe geht. Heute ist schon allen klar, dass Deutschlands Sicherheitspolitik die Ressortsilos verlassen muss, wenn sie unsere demokratische Gesellschaftsordnung ausreichend schützen will. Dies gilt genauso für den Gesundheitsbereich.
Einer Bündelung bundesinstitutioneller Einrichtungen mit bevölkerungsmedizinischer Kompetenz wäre die der digitalen Souveränität beizulegen. Es ist eine sicherheitspolitische und föderale Aufgabe, unsere Daseinsvorsorge bürgernah zu halten und vor einem Lock-in, also geschlossenen IT-Systemen und Herstellerabhängigkeiten, zu schützen. Hier sollte der Bund durch Standards in Schnittstellen die Sicherheit, Interoperabilität und Offenheit schaffen, die wiederum Voraussetzung für leistungsfähige Dateninfrastrukturen sind.
Weniger Bürokratie, mehr Bündelung
Der Normenkontrollrat, die Prüfstelle für Bürokratiekosten neuer Gesetze, fordert in seinem jüngsten Bericht mehr Effizienz: Weniger Bürokratie, mehr Bündelung – ein gemeinsames Bekenntnis von Bund, Ländern und Kommunen als Schlüssel zu einer schlankeren Verwaltung. Glücklicherweise existieren in Deutschland Einrichtungen, die in der Lage wären, die genannten Reformen umzusetzen. Doch bislang scheiterten diese Vorhaben an parteipolitischem Proporz.
Der Bund als übergeordnete Instanz kann die Leitplanken zu Austauschfähigkeit, Firmenunabhängigkeit, freien Quellencode und Anschlussfähigkeit für Bürger:innen festlegen. Auch wenn die Umsetzungsverantwortung für Gesundheit bei den Ländern liegt, ist die Festlegung auf Grundstandards für alle Bundesländer eine Gelingensbedingung der Digitalisierung.
Dadurch ließe sich eine Vielzahl an Insellösungen proprietärer Software (also Herstellergebundenheit) auf ein sicherheitsrelevantes Maß reduzieren. Für identische Zuständigkeiten und Anforderungen in 16 Bundesländern sollten also kompatible Softwareanwendungen beschafft werden. Gesundheitsämter in Bayern unterscheiden sich wenig von denen in Niedersachsen – es macht keinen Sinn, für dieselben Aufgaben unterschiedliche und inkompatible Programme einzusetzen. Offene Software könnte zentral durch den Bund beauftragt und mit Unterstützung von Unternehmen und Universitäten in den Bundesländern ausgerollt werden – ein einheitlicher Ansatz, der Interoperabilität und Effizienz gewährleistet.
Zusätzliche Anwendungen könnten in modularer Baukastenweise unter Einhaltung interoperativer Standards für regionale Erfordernisse erweitert werden – etwa spezialisierte Hochwasser-Frühwarnsysteme für besonders gefährdete Gebiete wie in Passau oder Dresden. Durch die Zusammenarbeit mit Open-Source-Initiativen könnten Kooperation und Kollaboration erheblich gestärkt werden. Dies würde nicht nur die Skalierbarkeit der Entwicklungen fördern, sondern auch den ÖGD zu einem Innovationsmotor für Gesundheitsanwendungen machen.
Kommunen: Demokratische Zentren der Lebenswelten
In den Kommunen finden die diversen Lebensrealitäten der Menschen statt. Hier muss also der ÖGD wirksam sein. Zielgruppenspezifische Bevölkerungsmedizin unter Berücksichtigung alters-, geschlechter-, religions- und kultursensibler Lebensbereiche muss wissenschaftlich, transparent und empathisch zugleich sein. Eine der Ursachen für die schleppende Digitalisierung im ÖGD und Behörden allgemein ist das Fehlen einer klaren Prozessorientierung. Erst die Straffung und Bündelung von Anschaffungs- und Implementierungsverfahren und die konsequente Automatisierung schaffen die Grundlagen für gelingende Digitalisierung. Und dies kann der Bund übernehmen.
Damit wären dann auch die überbordenden Vergabeprozesse 16-mal schlanker, kostengünstiger und unbürokratischer. Zudem würde dies für mehr Transparenz sorgen, während Kommunal- und Landesstellen entlastet würden. Eine bundesweit einheitliche, modulare IT-Plattform steigert die Datensicherheit und zugleich die Reaktionsfähigkeit in Krisensituationen wie Naturkatastrophen oder Pandemien. Ist das für Bundesländer denkbar? Wenn es um Bundesmittel geht, wären gesetzte Leitplanken vom Bund im Interesse der Länder.
Zudem bleibt ja gerade die Länderautonomie hierdurch unangetastet. Durch Definition landesspezifischer Anforderungen lassen sich regionale Besonderheiten digital berücksichtigen, ohne die übergeordnete Interoperabilität zu gefährden – bedarfsgerechte Individualisierung bei nationaler Kompatibilität. Gleichzeitig würden alle von den Kosteneinsparungen profitieren, ohne für die Umsetzung landesspezifischer Anforderungen eigene, zeitaufwendige Vergabeprozesse anstoßen zu müssen.
Digitale Bevölkerungsmedizin für die Menschen
Durch Standards wird transparent, was vormals in Bürokratieaktenordnern verloren ging: Die Echtzeit-Datenanalyse und automatisierbare Berichterstattung helfen, Ressourcen da einzusetzen, wo gesundheitliche Hilfe am nötigsten ist. Anstatt nur auf Krisen zu reagieren, könnte der ÖGD vorausschauend Versorgungsleistungen und Prävention gewährleisten. Eine zentrale Datenverarbeitung würde nicht nur die Forschung auf bundesweiter Ebene stärken, sondern auch eine evidenzbasierte Entscheidungsfindung für politische Akteure ermöglichen – ein essenzieller Schritt hin zu einer wirksameren und gerechten Gesundheitspolitik.
Der Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD zumindest verspricht digitale Souveränität im Sinne von Open Data bei staatlichen Einrichtungen und Public Money for Public Data. Zentralisierung föderaler Organisationen und dezentrale Kompetenzstärkung der Kommunen am Ort der Lebenswelten sind die Gelingensbedingungen für eine Bevölkerungsmedizin 2030. Der ÖGD kann die Brücke zwischen Zivilgesellschaft und primärem Versorgungssektor unter gleichen Bedingungen der ärztlichen Selbstverwaltung schlagen. Der neue Bundestag hat es in der Hand, Antworten auf die Challenges zu finden und umzusetzen. Der digitale ÖGD wäre ein guter Anfang für vorausschauendes Krisenmanagement und Gesundheitsversorgung nach tatsächlichen Bedarfen.
Mesut Yavuz, Inhaber YES Automation, konsultiert als Betriebswirt und IT-Experte Behörden und Unternehmen in Prozess- und Organisationsmanagement. Während der Pandemie entwickelte Yavuz im Rahmen der Digitalisierungsinitiative des Bundesministeriums für Gesundheit neue Konzepte zur Modernisierung der digitalen Landschaft im Öffentlichen Gesundheitsdienst.
PD Dr. med Nicolai Savaskan ist Facharzt für öffentliche Gesundheit, arbeitet im Gesundheitsamt Neukölln und lehrt an der Charité Universitätsmedizin Berlin. Zudem ist er Ausschusssprecher Planetary Health der Deutschen Gesellschaft für Öffentliche Gesundheit & Bevölkerungsmedizin (DGÖGB).
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