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Gesundheit & E-Health

Standpunkte Krisenschutz durch bessere Vernetzung

Mesut Yavuz ist IT-Berater, Nicolai Savaskan Facharzt für öffentliche Gesundheit.
Mesut Yavuz ist IT-Berater, Nicolai Savaskan Facharzt für öffentliche Gesundheit. Foto: promo

Mehr digitale Vernetzung und Datenaustausch in den öffentlichen Gesundheitssystemen über nationale Grenzen hinweg: Das fordern der IT-Experte Mesut Yavuz und der Facharzt für öffentliche Gesundheit, Nicolai Savaskan. Und sie drängen zur Eile. Durch den rasch fortschreitenden Klimawandel mit den damit einhergehenden Migrationsbewegungen nämlich ließen die nächsten Krankheitsausbrüche nicht auf sich warten.

von Mesut Yavuz und Nicolai Savaskan

veröffentlicht am 13.06.2024

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Das Jahr 2020 markiert einen Wendepunkt für die öffentliche Gesundheit in Europa und weltweit. Nie zuvor in der europäischen Geschichte wurden Gesundheitsämter dermaßen gefordert, die öffentliche Gesundheit für alle Bevölkerungsschichten akut sicherzustellen. Die COVID-19-Pandemie offenbarte die Notwendigkeit einer digitalen Vernetzung und des Datenaustausches, der nicht einbahnstraßenartig, sondern multilateral verlaufen und an unserer Landesgrenze nicht Stopp machen durfte.

Doch nach der Pandemie kämpfen die deutschen Gesundheitsämter immer noch mit den gleichen grundlegenden Problemen beim Datenmanagement. Im Vergleich zur allgemeinen Digitalisierung von Bürgerinnen und Bürgern sowie Unternehmen hinken Gesundheitsämter und das Robert Koch-Institut (RKI) deutlich hinterher.

Risikoreiche Abhängigkeiten

Die ineffizienten und veralteten digitalen Strukturen des Öffentlichen Gesundheitsdienstes (ÖGD) stehen im krassen Gegensatz zu den Anforderungen einer modernen, auf Europa ausgerichteten Datenverwaltung. Die in Ämtern zur Verwendung kommenden Systeme sind oft ausgelagert und häufig von einzelnen Herstellern programmiert, gehostet und gepflegt.

Genau diese Hersteller verfolgen geschlossene Systeme als ihr vitales Geschäftsmodell, die Behörden in risikoreiche Abhängigkeiten bringt. Dieser Umstand erklärt zum einen die Verwendung von altertümlich anmutenden, veralteten Softwareversionen in Ämtern. Es offenbart sich hier allerdings auch ein unabsehbares Sicherheitsrisiko, dass Ämter insbesondere bei Großschadenslagen bis zur Handlungsunfähigkeit treiben kann.

In einer vernetzten Welt mit vernetzten Gesundheitsgefahren bedeutet der Ausfall eines Gesundheitsamts oder einer Behörde im schlimmsten Fall ein Sicherheitsrisiko für ein ganzes Land oder einen ganzen Kontinent. Insofern beginnen die pandemische Bereitschaft und der Katastrophenschutz in einem tragfähigen, europäischen digitalen Netzwerk, das auch seine Bürgerinnen und Bürger mitberücksichtigt und beteiligt.

Zwei Treiber der Digitalisierung

Zwei wichtige Initiativen treiben im Moment den Digitalisierungsprozess im öffentlichen Dienst an. Erstens: die Verpflichtung zur Umsetzung des Onlinezugangsgesetzes der Europäischen Union. Zweitens: das Fördergesetz für die Digitalisierung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes (ÖGD-Pakt). Letzteres stellt bis zu 800 Millionen Euro bereit, um die Digitalisierung in den Gesundheitsämtern und nationalen Gesundheitseinrichtungen zu fördern.

Trotz dieser Bemühungen und Bereitstellung finanzieller Mittel wurde der entscheidende Digitalisierungstreiber jedoch nicht berücksichtigt: die Interoperabilität, also die verlustfreie und nahtlose Verbindung verschiedener Datenverarbeitungssysteme innerhalb Deutschlands und in Europa, war kein Kriterium der digitalen Investition.

Warum wurde kein Konsens gesucht?

Eine Großschadenslage innerhalb einer Kommune kann schnell als Boomerang der kurzsichtigen Digitalarchitektur auf europäische Regionen und Länder zurückschlagen. Man fragt sich, warum hierüber kein Konsens unserer überaus konsensfähigen Föderalstruktur gesucht wurde.

Defizitäre Zieldefinition? Wohl kaum unter Corona. Fehlende Digitalkompetenz? Schon eher der Fall. Wenn der Geldgeber also seinen Säckel für ein Wünsch-dir-was Programm öffnet, wird eben zugelangt und nicht im Grundsatz eine europäische Digitalarchitektur konsentiert.

Sicher, Geschwindigkeit war während der Pandemie angesagt und hat zwangsläufig zu handwerklichen Fehlern bei den Fördermittelgebern geführt. Allerdings läuft ja das Förderprogramm und damit die Ausschüttung von Geldern über die Pandemiezeit hinaus und hätte korrigiert werden können. Die Ursache muss also woanders liegen.

Wilder Digitaldschungel

Die Digitalisierung erfordert also klare technische und operative Zielsetzungen, ohne die es bei einem wilden Digitaldschungel wie bisher bleibt. Konkret heißt das: Benachbarte Gesundheitsämter können Daten bisher nicht interoperativ austauschen. Wir erinnern uns schmerzlich an den Berliner Zuständigkeitswirrwarr während der Coronazeit.

Neben einer niederschwelligen Vernetzung als technisches Ziel braucht es operative Zielsetzungen, die von den Anwenderinnen und Anwendern kommen. Dazu haben sich in der Vergangenheit operative Teams à la „Task Force Digitalisierung“ aus dem Anwenderkreis als überaus nützlich erwiesen. Teammitglieder, die ihre Anwendungen und Software kennen, sollten die Umsetzung begleiten und im agilen Prozessmanagement Berücksichtigung finden.

Es braucht Open-Source-Lösungen

Eine auch für unsere Demokratie relevante Möglichkeit zur Sicherstellung von Interoperabilität ist die des Zurückgreifens auf Open-Source-Lösungen. Als eine Erfolgsgeschichte gibt die vom Bund initierte und von der Zivilgesellschaft mit entwickelte Corona-WarnApp des RKI.

Die Idee von Open-Source-Lösungen in der Verwaltung ist, dass sich vertraglich Softwarearchitekturen so konfigurieren lassen, dass sie auch zivilgesellschaftlich kontrollierbar und herstellerunabhängig betrieben werden können. Das nämlich vermeidet Insellösungen und sicherheitskritische Abhängigkeiten von Einzelunternehmen. Ein weiterer Vorteil: Ressourcen werden effizient genutzt und kommen den Steuerzahlern in ganz Europa und theoretisch auch weltweit zugute.

Kernelemente der nötigen Reform

Bei der Umsetzung der Digitalisierung im Öffentlichen Gesundheitsdienst sollten die folgenden Kernelemente zwingend betrachtet werden:

1. Interoperabilität und gemeinsamer Datentausch
2. Skalierbarkeit
3. Zusammenarbeit mit allen Akteuren und Citizen Inclusion
4. Datenschutz, Sicherheit und Transparenz
5. Gerechtigkeit und barrierefreier Zugang
6. Datengestützte Entscheidungsfindung und permanentes prozedurales Lernen
7. Ethik und Governance

Erst durch die Berücksichtigung dieser Kernelemente kann im ÖGD eine effektive, integrative und ethisch verantwortungsvolle Lösung für die Digitalisierung ermöglicht werden und durch die gesteigerte Leistungsfähigkeit besser auf die Bedürfnisse von Bürgerinnen und Bürgern eingegangen werden.

Digitalisierung in der Praxis

Die Festlegung auf einen Blueprint räumt allerdings nicht alle Hürden des behördlichen Alltags aus. Da Menschen und Gesetze an verschiedenen Stellen unterschiedlich angewandt werden, bedarf es einer frühzeitigen Einbindung von Datenschutzbeauftragten, Personalvertretungen und anderen Stakeholdern.

Es bleibt nicht aus, dass Mitarbeitende in Behörden spezielle Kenntnisse im Projekt- und Prozessmanagement mitbringen oder rasch erwerben und andere Mitarbeitende schulen. Eine behördeneigene IT-Koordination ist hierbei unerlässlich: Bedürfnisse und Anforderungen der Anwender müssen technisch und fachlich übersetzt werden. Am Ende ist der Erfolg von Digitalisierung eben auch wieder people-business, welches einer transparenten Kommunikation, Anforderungsmanagement, Prototyping und Testen der Lösungen durch die Mitarbeitenden bedarf.

Plädoyer für globale Digitalarchitektur

Eine europaweite Zusammenarbeit könnte hier digitale Architekturen für die öffentliche Gesundheit standardisieren und Multidimensionalität erlauben. Projekte wie die Open-Source-Software SORMAS zeigen, dass interoperable und skalierbare Systeme möglich sind und in der Praxis auch bestehen. Ein gemeinsamer europäischer Gesundheitsdatenraum könnte die Überwachung und damit Prävention von Krankheitsausbrüchen in Echtzeit ermöglichen.

Die COVID-19-Pandemie hat die Notwendigkeit eines vernetzten europäischen Gesundheitsraums offenbart. Digitaler Service durch Behörden ist heute schon in Europa gesetzlich verankert. Durch den Data Governance Act (DGA) ist eine Verordnung der Europäischen Union im September 2023 in Kraft getreten, welches eine Datenweitergabe innerhalb der EU vereinfachen soll. Jetzt bedarf es einer kollegialen Umsetzung, die transparente Datenverwaltung und damit Gesundheitsschutz im europäischen Raum verlässlich sicherstellt.

Es ist an der Zeit, eine europäische und letztlich globale Digitalarchitektur zu implementieren, die die öffentliche Gesundheit sicherstellt und seinen Bürgerinnen und Bürgern einen verlässlichen Krisenschutz bietet. Denn eines ist gewiss: Durch den rasch fortschreitenden Klimawandel und die damit einhergehenden Migrationsbewegungen werden die nächsten Krankheitsausbrüche nicht auf sich warten lassen.

Mesut Yavuz, Inhaber YES Automation, konsultiert als Betriebswirt und IT-Experte Behörden und Unternehmen in Prozess- und Organisationsmanagement. Während der Pandemie entwickelte Yavuz im Rahmen der Digitalisierungsinitiative des Bundesministeriums für Gesundheit neue Konzepte zur Modernisierung der digitalen Landschaft im Öffentlichen Gesundheitsdienst.

PD Dr. med Nicolai Savaskan ist Facharzt für öffentliche Gesundheit, arbeitet im Gesundheitsamt Neukölln und lehrt an der Charité Universitätsmedizin Berlin.

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