Lange war er angekündigt, nun liegt er auf dem Tisch und wird erwartungsgemäß hitzig diskutiert: Der Entwurf für ein Apothekenreformgesetz (ApoRG), das die Arzneimittelversorgung in Deutschland wieder zukunftsfest machen soll. Denn Deutschlands Bevölkerung altert, und die geburtenstarken Jahrgänge der Nachkriegszeit scheiden bald aus dem Erwerbsleben aus. Immer mehr Menschen müssen von immer weniger Personal betreut werden. Das gilt für die pharmazeutische Versorgung genauso wie für die ärztliche und pflegerische. Die Zahl der Apotheken nimmt ab, und die Kapazitätsgrenzen bei der Bewältigung der Patientenbedürfnisse sind erreicht. Bis Ende des Jahrzehntes fehlen selbst nach defensiven Schätzungen mindestens 10.000 Apotheker in Deutschland. Zugleich ist (und bleibt) die finanzielle Lage der öffentlichen Hand und der Krankenversicherung angespannt.
Kein leichtes Lastenheft also für den Gesundheitsminister: Die flächendeckende Versorgung trotz Fachkräftemangel und knapper Kassen sichern. Das in den fetten Jahren der Gesundheitspolitik gepflegte Procedere, Strukturen weitgehend unangetastet zu lassen, mit zusätzlichem Geld zu stabilisieren und sich so politischen Gegenwind zu ersparen, funktioniert nicht mehr. Also geht Lauterbach, wie in anderen Versorgungsbereichen auch, ans Eingemachte: Mittel sollen umgeschichtet, die Regeln für den Apothekenbetrieb flexibilisiert und effiziente Versorgungsformen gefördert werden.
Telepharmazie als zweite Säule der Versorgung
Die denkbar effizienteste Form der Versorgung mit Arzneimitteln ist die Telepharmazie. Sie lindert den Fachkräftemangel, denn sie erlaubt eine optimale Allokation knapper Betreuungsressourcen, indem pharmazeutisches Fachpersonal ortsunabhängig den Bedarf von Patientinnen und Patienten in ganz Deutschland adressieren kann. Sie reduziert Leerlaufzeiten und senkt Overhead-Kosten. In Verbindung von E-Rezept und moderner Versandlogistik oder Botendienst können Patientinnen und Patienten überall in Deutschland in 24 Stunden oder schneller zu Hause mit Arzneimitteln versorgt werden.
Menschen, die in ihrer Mobilität eingeschränkt sind oder in Regionen mit schwacher Versorgungsinfrastruktur leben, profitieren davon besonders. Telepharmazie ist auch pharmazeutisch effektiv, weil für Patienten in der digital gestützten Betreuung in der Regel eine umfassende und gesicherte Medikationshistorie vorliegt, die optimale Beratung erlaubt und die Arzneimitteltherapiesicherheit fördert. Wir brauchen sie deshalb als tragende zweite Säule der Versorgung.
Wichtige Impulse – aber es ginge noch mehr
Lauterbachs Gesetzentwurf enthält hier wichtige Impulse: Telepharmazie soll in die Apothekenbetriebsordnung integriert, die Videoberatung des Patienten aus der Apotheke ermöglicht und ein pharmazeutisches ‚Videokonsil‘ zwischen Apothekern und Pharmazeutisch-Technischen Angestellten (PTA) in verschiedenen Betriebsstätten erlaubt werden. Aber an etlichen Punkten ist der Entwurf noch nicht zu Ende gedacht: Er begrenzt Telepharmazie per Definition auf synchrone Videoverbindungen und beschneidet ohne Not die Möglichkeiten von synchroner wie asynchroner Kommunikation zwischen Heilberufler und Patient.
Kann heute der Chat mit einem Apotheker über einen gesicherten Messengerdienst für bestimmte Patienten ein adäquater Beratungskanal sein, ist es morgen vielleicht ein Infoclip mit einem KI-generierten Avatar, der dem Patienten als Vorbereitung auf sein persönliches Videogespräch mit dem Apotheker dient.
Unter den Möglichkeiten bleibt der Gesetzentwurf auch mit Blick auf Telearbeitsplätze für pharmazeutisches Personal. Wenn heute schon Ärzte per Telemedizin aus dem Homeoffice Patienten betreuen, warum sollen nicht auch PTA bestimmte Tätigkeiten von zu Hause durchführen können. Das Berufsbild würde dadurch attraktiver, eine „stille Reserve“ am Arbeitsmarkt für Teilzeitbeschäftigte könnte gehoben und der Fachkräftebedarf besser gedeckt werden.
Versorgung stärker am Patientenbedarf ausrichten
Auch mit dem Ansatz, regulatorische Hürden abzubauen und den Apothekenbetrieb einfacher zu machen, geht der Reformentwurf in die richtige Richtung. Flexiblere Öffnungszeiten, die einfache Gründung von Zweigapotheken oder weiter von der Hauptapotheke entfernten Filialen können zum Erhalt der flächendeckenden Versorgung ebenso beitragen wie etwas weniger strenge Auflagen zur physischen Anwesenheit des Apothekeninhabers.
Lauterbach beweist hier Pragmatismus. Der wäre an anderer Stelle in der Versorgung aber auch gefragt, nämlich bei der konsequenten Betreuung von chronisch erkrankten Menschen, die sich permanent um Folgerezepte kümmern, ihre umfangreiche Medikation verstehen und richtig einnehmen müssen. Warum gibt es für Patienten, die wegen ihrer Polymedikation einen Anspruch auf einen elektronischen Medikationsplan haben, nicht auch das Recht auf patientenindividuelle Verblisterung ihrer Arzneimittel?
In anderen europäischen Ländern erzielt man damit seit Jahren sehr gute Versorgungsergebnisse: Verblisterung ist deutlich weniger fehleranfällig als das händische Auseinzeln und Stellen von Medikamenten. Sie erhöht die Adhärenz der Patienten und verhindert Fehlallokationen durch die Abgabe unwirtschaftlicher Packungsgrößen. Gerade für die fünf Millionen pflegebedürftigen Patienten in Deutschland und ihre Betreuungspersonen läge darin eine große Chance zur Entlastung und zur Verbesserung der Arzneimitteltherapiesicherheit.
Hoffnung auf bessere Versorgung in der Fläche
Pragmatisch geht Lauterbach auch in Sachen Vergütung vor: Er erhöht das Fixum, das die Apotheke für jede Arzneimittelpackung bekommt, bis 2026 in zwei Schritten von 8,35 Euro auf 9,00 Euro. Zur Gegenfinanzierung soll der variable Honoraranteil, der derzeit bei drei Prozent des Packungspreises liegt, auf zwei Prozent gesenkt werden. Zudem sollen Apotheken für den Nacht- und Notdienst 30 Prozent mehr Geld bekommen.
Mit beiden Maßnahmen hofft der Minister, die Versorgung in der Fläche zu stützen. Die Kalkulation dahinter: Versorgungswichtige Apotheken mit räumlicher Alleinstellung müssen öfter Notdienst machen, geben aber aufgrund der (fach)ärztlichen Versorgungsstruktur auf dem Land seltener teure Arzneimittel ab, müssten also von beiden Maßnahmen überproportional profitieren.
Ob die damit verbundenen Steuerungsimpulse tendenziell unterversorgte Regionen punktgenau fördern können, bleibt jedoch fraglich. Die ganze Vergütungsdebatte krankt schließlich daran, dass die tatsächliche Versorgungssituation sozialräumlich bisher nicht untersucht und keine Kriterien für eine flächendeckende Versorgung entwickelt wurden. Die braucht es längerfristig, um Versorgung gezielt zu steuern.
Gleichwertige Leistungen gleich vergüten
Die zusätzlichen 50 Millionen Euro jährlich für den Nacht- und Notdienst werden übrigens aus dem Fonds für pharmazeutische Dienstleistungen der Apotheken abgezwackt, den die GKV seit Ende 2021 befüllen muss. Dort liegen über 350 Millionen Euro, die nicht abgerufen wurden, weil die Apotheken vor Ort kaum Dienstleistungen anbieten. Der Gesetzgeber sollte diese Ressource konsequenter nutzen, um Gleichberechtigung herzustellen: Dienstleistungen wie die „erweiterte Medikationsberatung bei Polymedikation“ müssen zukünftig auch telepharmazeutisch erbracht werden können. Und gleichwertige Leistungen müssen gleich vergütet werden.
Vor-Ort-Apotheken erhalten für die Belieferung per Botendienst ein zusätzliches Honorar. Online-Apotheken bekommen für die im Ergebnis identische Versorgung auf dem Versandweg keine Vergütung. Das zu ändern, würde auch die fast 3200 Präsenzapotheken stärken, die in Deutschland eine Versandhandelserlaubnis haben. Vor-Ort-und Online-Betreuung müssen gleichberechtigte Säulen der Versorgung werden. Sonst wird es Essig mit der Flächendeckung.
Walter Hess ist CEO bei der Versandapotheke DocMorris.