Standpunkte Ein Fitnessprogramm für das Gesundheitswesen

Das deutsche Gesundheitssystem steht vor großen Veränderungen. Digitalisierung, Datennutzung und Prävention könnten einen wichtigen Beitrag leisten, um seine Leistungsfähigkeit zu sichern, betonen Florian Niedermann und Ulrike Deetjen von McKinsey. Dabei würde nicht nur das Gesundheitswesen profitieren, sondern auch Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft.
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Jetzt kostenfrei testenDie hochwertige Gesundheitsversorgung in Deutschland gerät zunehmend unter Druck. Ein Grund dafür ist, dass Menschen einen immer längeren Teil ihres Lebens in schlechter Gesundheit verbringen. Obwohl die Lebenserwartung in Deutschland seit dem Mauerfall 1989 von 75 auf 81 Jahre gestiegen ist, bleibt der Anteil des Lebens, den Menschen in einem schlechten Gesundheitszustand verbringen, unverändert. Bis 2040 dürfte die Lebenserwartung in Deutschland geborener Kinder auf 83 steigen, was auch die Zeit mit gesundheitlichen Problemen verlängern wird.
Auch dadurch sind die Gesundheitskosten in Deutschland höher als je zuvor. Zwischen 2017 und 2022 stiegen die Ausgaben pro Kopf um fünf Prozent jährlich auf rund 6000 Euro. Das entsprach 2021 einem Anteil von 12,9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) – der höchste Wert in der EU.
Parallel verschärft sich der Fachkräftemangel. Die bestehende Lücke an 100.000 Pflegekräften könnte sich bis 2040 vervierfachen. Und auch bei Ärztinnen und Ärzten steigt das Durchschnittsalter und liegt inzwischen bei deutlich über 50 Jahren. Um das Gesundheitssystem fit für die Zukunft zu machen, ist eine Kraftanstrengung erforderlich. Digitalisierung, Datennutzung und Prävention haben ein enormes Potenzial, die Transformation zu unterstützen.
Digitale Transformation des Gesundheitswesens
Die digitale Transformation ist ein zentraler Hebel, um das Gesundheitswesen effizienter und die Versorgung besser zu machen. Im Vergleich zu Branchen wie Finanzwesen oder Handel hat der Gesundheitssektor das Potenzial der Digitalisierung lange Zeit nicht ausgeschöpft. Mit Blick auf Faktoren wie Regulatorik, Datenschutz oder der Abhängigkeit von papierbasierten Systemen hat inzwischen ein Umdenken eingesetzt und die Vorteile der Digitalisierung werden an vielen Stellen erkannt. Ein Meilenstein könnte die im Krankenhauszukunftsgesetz vorgesehene Verpflichtung von Krankenhäusern werden, ihre Informationssysteme bis 2027 zu modernisieren. Dies soll Investitionen in digitale Lösungen fördern, welche die Arbeitsabläufe verbessern, die Patientenversorgung optimieren und die Effizienz steigern.
Vom Umdenken könnte zum Beispiel auch Telemonitoring profitieren. Dadurch lassen sich Gesundheitswerte wie Blutdruck, Puls oder Blutzuckerspiegel aus der Ferne kontrollieren und nach McKinsey Berechnungen rund 4,3 Milliarden Euro jährlich an Kosten sparen. Rund zwei Drittel davon entfallen auf die Vermeidung von Krankenhausaufenthalten und rund ein Drittel auf kürzere Liegezeiten und die Verschiebung der Behandlung in ambulante Versorgungsformen.
Der Erfolg der digitalen Transformation hängt jedoch nicht nur von neuen Technologien ab, sondern auch von der aktiven Einbindung der Patientinnen und Patienten. Ihr Vertrauen und ihre digitalen Kompetenzen sind entscheidend, damit digitale Gesundheitsplattformen und -angebote genutzt werden. Das Ziel muss sein, dass möglichst jeder, unabhängig von sozioökonomischem Status oder technischer Kompetenz, von digitalen Gesundheitslösungen profitiert.
Umfassende Nutzung von Gesundheitsdaten
Der regulatorische Rahmen für die Nutzung von Gesundheitsdaten hat sich in den vergangenen Jahren erheblich verändert. Der europäische Raum für Gesundheitsdaten (EHDS), das Digital-Gesetz (DigiG) und das Gesundheitsdatennutzungsgesetz (GDNG) spiegeln ein zunehmend nutzungsorientiertes Verständnis von Gesundheitsdaten wider. Der Übergang von einem individualistischen Ansatz („meine Daten“) zu einem kollaborativen Modell („unsere Daten“) unter verbundenen Datenbanken ist ein entscheidender nächster Schritt.
Ein wichtiger Meilenstein ist dabei auch die Einführung der elektronischen Patientenakte (ePA). Sie ermöglicht die umfassende Speicherung von medizinischen Aufzeichnungen und fördert die Nutzung von Daten für die Forschung, um die Versorgung zu verbessern. Viele Unternehmen, Start-ups und Krankenkassen haben bereits gezeigt, wie innovative Technologien, Gesundheitsdaten in wirksame Werkzeuge umwandeln können. Beispielsweise kann jemand, der immer wieder wegen Rückenschmerzen arbeitsunfähig ist, automatisch entsprechende Kurse verordnet bekommen.
Die intelligente und verantwortungsvolle Nutzung von Daten hat das Potenzial, das Gesundheitswesen zu prägen, die Behandlungsergebnisse zu verbessern und medizinische Prozesse effizienter zu gestalten. Generative KI kann dabei nach McKinsey-Analysen zudem den aktuellen Automatisierungsgrad von Tätigkeiten im Gesundheitswesen um 17 Prozent von 28 auf bis zu 45 Prozent steigern.
Verstärkter Fokus auf Prävention
Prävention ist der effektivste Weg, um die Belastung des Gesundheitssystems zu reduzieren und die Gesundheit zu fördern. Die Prävalenz chronischer Erkrankungen, wie Diabetes und Alzheimer, ist in den vergangenen zwei Jahrzehnten stark gestiegen und stellt erhebliche Herausforderungen für Gesundheitssysteme weltweit dar. Trotz des Potenzials werden präventive Maßnahmen oft unterfinanziert und selten angewendet. In OECD-Ländern werden nur etwa drei Prozent der Gesundheitsbudgets für Prävention aufgewendet. Dies unterstreicht die Notwendigkeit, die Prioritäten im Gesundheitswesen zu verlagern und Strategien zu verfolgen, die sich auf die langfristige Erhaltung von Gesundheit und Vitalität konzentrieren.
Denn die Forschung zeigt, dass fast 85 Prozent des Gesundheitszustands durch veränderbare Verhaltensweisen sowie persönliche Entscheidungen beeinflusst werden und damit außerhalb der „klassischen Medizin“ liegen. Ein stärkerer Fokus auf Prävention kann aber nicht nur die Gesundheit verbessern, sondern hat auch erhebliche wirtschaftliche Vorteile. Nach McKinsey-Analysen könnten bessere Gesundheitsvorsorge und -versorgung bis 2040 ein zusätzliches globales BIP von zwölf Billionen US-Dollar generieren. In Deutschland ist das Potenzial ebenfalls enorm.
Digitalisierung, Datennutzung und Prävention können erheblich dazu beitragen, sowohl die Spitzenmedizin als auch die Routineversorgung zu verbessern sowie effizienter und sicherer zu machen. Fortschritte in diesen Bereichen werden auch dazu beitragen, den Gesundheitsstandort Deutschland zu stärken sowie Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit voranzutreiben. Es ist essenziell, jetzt die richtigen Schritte zu unternehmen.
Florian Niedermann ist Senior Partner bei McKinsey und leitet die Beratung des Gesundheitssektors in Deutschland und Österreich. Er ist Experte für Technologie und Digitalisierung und begleitet Organisationen und Unternehmen bei strategischen Themen sowie langfristigen Transformationen.
Ulrike Deetjen ist Partnerin bei McKinsey und berät vor allem Organisationen und Unternehmen der Gesundheits- sowie der Versicherungsbranche zu Technologie- und Digitalisierungsthemen.
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