Der 1. Juni 2024 könnte für das deutsche Gesundheitswesen ein historisches Datum werden. An diesem Tag soll die Verordnung zur Personalbemessung in der stationären Krankenpflege in Kraft treten. Das ist später als geplant. Und dennoch ein Grund zum Feiern. Denn erstmals orientiert sich die Personalausstattung in der Krankenpflege künftig am tagesgenau festgestellten Bedarf. Damit rückt der Zusammenhang von genug Personal, guten Arbeitsbedingungen und guter Pflege in den Mittelpunkt. In der Verordnung heißt es: „Für die Qualität der Patientenversorgung und die Arbeitssituation der Pflegekräfte in den Krankenhäusern ist eine angemessene Personalausstattung in der Pflege im Krankenhaus essenziell. Gute Arbeitsbedingungen und eine hochwertige pflegerische Versorgung müssen gewährleistet werden.“
Genau darauf zielt die verbindliche Einführung der PPR 2.0 ab. Ein echter Paradigmenwechsel, denn bisher wurden Vorgaben an der vorhandenen, unzureichenden Personalausstattung festgemacht. So orientieren sich die Pflegepersonaluntergrenzen an den 25 Prozent der am schlechtesten besetzten Kliniken in Deutschland – und nicht etwa am Pflegebedarf der Patientinnen und Patienten.
Die Beschäftigten der Krankenhäuser streiten seit vielen Jahren für mehr Personal und Entlastung. Im Juni 2015 – vor fast neun Jahren! – machten 162.000 Beschäftigte vor ihren Kliniken sichtbar, wie viele Kolleg*innen für eine gute Versorgung fehlen. Seither verging keine Gesundheitsministerkonferenz ohne lautstarke Proteste, kein Internationaler Tag der Pflegenden ohne Aktionen. Teilweise mit wochenlangen Streiks setzte Verdi in mittlerweile 26 großen Krankenhäusern Vereinbarungen für mehr Personal und Entlastung durch. All das prägte die öffentlichen Debatten, brachte die Politik ins Handeln.
Spahn ließ die PPR 2.0 liegen
Im Rahmen der Konzertierten Aktion Pflege erhielten Verdi, die Deutsche Krankenhausgesellschaft und der Deutsche Pflegerat den Auftrag, gemeinsam ein Instrument zur Personalbemessung zu entwickeln. Trotz vieler anderweitiger Differenzen haben wir geliefert. Im August 2019 legten wir erste Eckpunkte für die PPR 2.0 vor, die auf der Pflegepersonalregelung (PPR) aus dem Jahr 1992 basiert und diese weiterentwickelt. Der damalige Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hat es ausgesessen, zum Schaden von Patient*innen und Beschäftigten. Unter seinem Nachfolger Karl Lauterbach (SPD) wurde das Konzept zwischen Mai und Juli 2023 endlich erprobt. Zum 1. Juni 2024 wird die PPR 2.0 eingeführt – ein Wendepunkt, mit dem der Teufelskreis aus schlechten Arbeitsbedingungen, Berufsflucht und Personalnot durchbrochen werden kann.
Die Voraussetzung ist, dass die Vorgaben zeitnah umgesetzt werden. Ab Juli 2024 sollen die Krankenhäuser ihren Personalbedarf ermitteln, der dann mit der tatsächlichen Besetzung abgeglichen wird. In einer Konvergenzphase „sollen Regelungen getroffen werden, mit denen die Festlegung und stufenweise Anhebung des Erfüllungsgrades der Soll-Personalbesetzung mit dem Ziel des Personalaufbaus beginnt“. Nach der ersten Phase der Einführung muss Entlastung für die Beschäftigten im Klinikalltag ankommen, indem verbindliche und schnell umzusetzende Schritte zur Erreichung der bedarfsgerechten Personalbesetzung vorgegeben werden.
Auch andere Beschäftigte in den Blick nehmen
Wenn die Vorgaben nicht eingehalten werden, müssen Konsequenzen folgen. Verstöße sind zu sanktionieren, am besten wäre die Anpassungen der Patientenzahlen an das vorhandene Personal. Denn die PPR 2.0 beschreibt das, was für eine gute Versorgung notwendig ist. Keinesfalls darf es zu einer Situation kommen wie in der Psychiatrie, wo die volle Umsetzung der PPP-RL und die Sanktionierung von Verstößen seit Jahren auf sich warten lassen.
Die PPR 2.0 ist als lernendes, erweiterbares Instrument angelegt. Zugleich mit seiner Einführung wird an einer wissenschaftlichen Weiterentwicklung der Personalbemessung gearbeitet. Dabei sollten auch bestehende Lücken geschlossen und notwendige Korrekturen vorgenommen werden, wie die Herausnahme der Auszubildenden aus der Personalberechnung und die Berücksichtigung der Nachtschichten. Und wichtig: Der Gesetzgeber darf nicht beim Pflegepersonal stehen bleiben, auch für andere Beschäftigtengruppen gehören bedarfsgerechte Personalvorgaben auf die Agenda. Denn Krankenhaus ist Teamarbeit, eine adäquate Personalausstattung ist in allen Bereichen notwendig.
Bundesländer müssen grünes Licht geben
Die verbindliche Einführung der PPR 2.0 ist jetzt auf der Zielgeraden. Gut so! Denn die Pflegepersonen in den Krankenhäusern verlangen eine verlässliche Perspektive, dass sich ihre Arbeitsbedingungen absehbar verbessern. Das ist gerade angesichts der aktuellen Diskussionen um die Krankenhausreform und das Krankenhaustransparenzgesetz wichtig, die zu viel Verunsicherung unter den Beschäftigten führen. Hinzu kommt die für viele Kliniken bedrohliche wirtschaftliche Lage. In dieser Situation ist es von besonderer Bedeutung, dass die Bundesländer ein deutliches Signal für gute Arbeitsbedingungen und eine qualitativ hochwertige Versorgung in den Krankenhäusern senden, indem sie im März für die Einführung der PPR 2.0 grünes Licht geben.
Für die Krankenhäuser gilt es, die kommenden Wochen zu nutzen und die Einführung der PPR 2.0 gut vorzubereiten. Die Erprobungsphase hat gezeigt, dass eine Einführung der Personalbemessung dort am besten gelingt, wo die Beschäftigten frühzeitig und umfassend informiert und eingebunden werden. Für die Erfassung der Ist- und Soll-Besetzungen stehen gute digitale Lösungen zur Verfügung, die mit geringem Arbeitsaufwand verbunden sind. Selbstverständlich sind entsprechende Schulungen nötig.
Ökonomisierung zurückdrängen
Es liegt also noch viel Arbeit vor allen Beteiligten. Mit der Einführung der PPR 2.0 sind nicht alle Probleme gelöst. Dennoch ist ihr Inkrafttreten ein Meilenstein und eine große Chance, die Fehlentwicklungen der vergangenen Jahrzehnte zu korrigieren. Nicht betriebswirtschaftliche Erwägungen oder gar Profitmaximierung dürfen das Gesundheitswesen bestimmen, sondern der Versorgungsbedarf. Der Mensch muss im Mittelpunkt stehen. Die bedarfsgerechte Personalbemessung in der Krankenhauspflege ist dafür ein wichtiger Schritt.
Es darf nicht der einzige bleiben. Die Ökonomisierung muss – wie von Lauterbach angekündigt – auch bei der Finanzierung rasch und konsequent zurückgedrängt werden. Die geplante Krankenhausreform zielt mit der Einführung von Vorhaltepauschalen in diese Richtung, wenn dies auch längst nicht weit genug geht. Doch etliche bedarfsnotwendige Krankenhäuser könnten aus akuter wirtschaftlicher Not schließen, noch bevor die Reform greift. Das gilt es zu verhindern. Die Bundesregierung muss mit kurzfristigen Hilfen dafür Sorge tragen, dass kein Krankenhaus geschlossen wird, das für eine gute und flächendeckende Versorgung gebraucht wird.
Auch hier bleibt Verdi am Ball. Die Einführung der PPR 2.0 zeigt: Mit Energie und Ausdauer können die Beschäftigten der Krankenhäuser viel bewegen. Diese Kraft werden wir weiter im Sinne einer hochwertigen Versorgung und guter Arbeitsbedingungen einsetzen.
Sylvia Bühler ist beim verdi-Bundesvorstand für das Gesundheitswesen zuständig.