Kurz vor der Jahrtausendwende wehte ein rauer Wind durch unser Land: Die Nachwehen der Wiedervereinigung belasteten den bundespolitischen Haushalt, der Arbeitsmarkt stagnierte und die Nachfrage nach Exportgütern ging spürbar zurück. Die Arbeitslosenquote stieg erstmals seit den Fünfzigerjahren wieder auf mehr als zehn Prozent. Deutschland war „der kranke Mann Europas“. Nach zahlreichen Reformen folgte dann ein kleines Wirtschaftswunder.
Diese Dynamik bräuchte es auch jetzt wieder. Mit Robert Habeck und Christian Lindner stellten bereits zwei amtierende Bundesminister die Wettbewerbsfähigkeit der heimischen Industrie infrage. Während anderswo die Wirtschaft boomt, rutscht Deutschland infolge von Corona-Pandemie, Lieferkettenproblemen und einer Energiekrise in die Rezession.
Als Hauptgründe für diese Fehlentwicklung gelten die hohen Energiekosten, überbordende Bürokratie sowie langsame Planungs- und Genehmigungsverfahren. Prof. Moritz Schularick, Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW), sprach jüngst aber auch von einer nachlassenden Innovationskraft hiesiger Konzerne, beispielsweise bei der Entwicklung und Vermarktung von Elektrofahrzeugen. Eine Branche, auf die diese Kritik sicher nicht zutrifft, ist die forschende Pharmaindustrie. Trotz zum Teil schwieriger politischer Rahmenbedingungen haben mehrere Unternehmen jüngst beträchtliche Investitionen in Deutschland angekündigt oder bereits getätigt.
Pharmaindustrie als Job- und Wachstumsmotor
Ich bin sehr stolz, dass wir, das globale Bio-Pharma-Unternehmen AbbVie, kürzlich ebenfalls einen Spatenstich feiern konnten. Für rund 150 Millionen Euro errichten wir in Ludwigshafen ein neues hochmodernes Forschungs- und Entwicklungsgebäude. Rund ein Drittel der über 1000 Wissenschaftler:innen am Standort werden hier ab 2027 an neuen Therapien arbeiten, die das Leben von Millionen Patient:innen verbessern könnten. Die Schwerpunkte liegen unter anderem auf der Entwicklung von Wirkstoffen zur Behandlung von Alzheimer, Autoimmunerkrankungen und Krebs.
Neben der Entwicklung und Produktion dringend benötigter Arzneimittel sorgen Unternehmen wie AbbVie auch für eine Stärkung der regionalen und nationalen Wirtschaft: Inklusive sogenannter Ausstrahleffekte tragen wir bereits jetzt circa eine Milliarde Euro zum deutschen Bruttoinlandsprodukt bei. Grundlage für diese Stärke sind fortlaufende Investitionen. AbbVie hat seit 2020 rund 250 Millionen Euro in alle Bereiche des Standorts in Ludwigshafen investiert – zusätzlich zum neuen Forschungs- und Entwicklungsgebäude. Als globales Unternehmen wissen wir, dass Deutschland im weltweiten Wettbewerb um Investitionsentscheidungen steht. Deshalb ist es so essenziell, dass wir innovationsfreundliche Rahmenbedingungen in die Waagschale werfen können.
Die Pharmastrategie hilft – doch ein Hemmschuh bleibt
Die Bundesregierung hat mit der nationalen Pharmastrategie wichtige Weichen für eine Stärkung des Forschungs- und Produktionsstandorts Deutschland gestellt. Insbesondere das Antragsrecht der Industrie beim Forschungsdatenzentrum Gesundheit aus dem Gesundheitsdatennutzungsgesetz und die Pläne zur Beschleunigung klinischer Studien im Medizinforschungsgesetz haben das Potenzial, uns deutlich voranzubringen.
Das könnte unser Ziel unterstützen, die Entwicklungsgeschwindigkeit zu erhöhen. Wenn Patient:innen mit einer Krebsdiagnose oder einer neurologischen Erkrankung konfrontiert werden, benötigen sie heute Behandlungsoptionen – nicht in zehn Jahren. Wir können uns glücklich schätzen, dass Deutschland (noch) zur europäischen Spitze zählt, wenn es darum geht, innovative Therapien schnell für Patient:innen verfügbar zu machen. Dieser Aspekt ist für mich enorm wichtig. Ich möchte, dass Medikamente, die wir erforschen und produzieren, Menschen helfen. Doch es reicht nicht, die Entwicklung von Innovationen zu unterstützen. Um sicherzustellen, dass Patient:innen weiterhin in gewohntem Maße Zugang zu neuen Medikamenten haben, brauchen wir stabile Rahmenbedingungen. Doch danach sieht es aktuell leider nicht aus.
Seit 2011 hat sich das AMNOG als Erfolgsmodell bewährt, das den Nutzen von Innovation für Patient*innen objektiv und unter kalkulierbaren Bedingungen bewertet – eine faire Grundlage für die Verhandlung des Erstattungsbetrags. Das GKV‑Finanzstabilisierungsgesetz bricht mit dieser Logik, indem es Schrittinnovationen ihren Wert abspricht. Hierbei handelt es sich um Therapien mit einem „geringen“ Zusatznutzen laut Bewertung durch den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA). In der Realität können diese kleinen Schritte aber aus der Sicht der Patient:innen einen entscheidenden Unterschied machen.
Viele Schritte verbessern Leben
Fortschritte in der Medizin haben die Möglichkeiten für Patient:innen positiv verändert – von der Heilungschance bei Hepatitis C bis zur Erhöhung der Fünf‑Jahres-Überlebensrate für Patient:innen mit Multiplem Myelom auf nahezu das Doppelte (von 36,7 Prozent in den Jahren 2000 bis 2004 auf 62,4 Prozent in 2015 bis 2019). Das ist es, was mich als Forscher antreibt. Sprunginnovationen, also beispielsweise die Entwicklung der ersten Therapie gegen eine Erkrankung, sind fantastische, aber auch seltene Erfolgserlebnisse. Der medizinische Fortschritt für Patient:innen basiert in großen Teilen auf Schrittinnovationen.
Besonders offenkundig wird die Bedeutung von Schrittinnovationen, graduellen Verbesserungen und der benötigten Bandbreite an Therapieoptionen am Beispiel der rheumatoiden Arthritis. Noch in den 1990er Jahren gehörten chronische Schmerzen, Funktionsverlust und Operationen zum Alltag vieler Patient:innen – sie konnten nur eingeschränkt am Leben teilnehmen oder waren von Arbeitsunfähigkeit betroffen. Ein medizinischer Durchbruch durch Biologikatherapien gab der Krankheit ein neues Gesicht, weil sich der körperliche und psychische Gesundheitszustand vieler Betroffener „normalisierte“. Doch nicht alle Betroffenen sprachen gleichermaßen auf die verfügbaren Therapien an. Es brauchte weitere Optionen und neue Wirkmechanismen, um noch mehr Menschen langfristig helfen zu können. Diese Bandbreite gibt es heute glücklicherweise, trotzdem ist die Erkrankung nicht besiegt. Es muss sichergestellt sein, dass der ungedeckte medizinische Bedarf dieser Menschen anerkannt und verbesserte therapeutische Optionen entsprechend honoriert werden, damit weiter intensiv geforscht werden kann.
Auch bei Kombinationstherapien erkennt das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz den Mehrwert für Patient:innen nicht an. Es bereitet mir Bauchschmerzen, dass die kombinierte Behandlung mit mehreren innovativen Arzneimitteln, die vor allem im Bereich der Krebstherapie häufig vorkommen, weiteren Rabatten unterliegen sollen – und das, obwohl ihr individueller Mehrwert für die Patient:innen bereits zuvor in Verhandlungen bestätigt wurde. Dies kann dazu führen, dass Arzneimittel für deutsche Patient*innen entweder nur verzögert oder gar nicht zur Verfügung stehen werden.
Wir können die Innovationskraft vor dem Aussterben retten
Eine Gesetzgebung, die Innovationen nicht honoriert, wirkt sich negativ auf den Forschungs- und Produktionsstandort Deutschland aus. Es ist ein schleichender Prozess, denn bei Investitionsentscheidungen in Forschung, Entwicklung und Produktion wird in langfristigen Zyklen geplant. Verlässliche und innovationsfreundliche gesetzliche Rahmenbedingungen helfen hier, politische Unsicherheit sicherlich nicht.
Es bleibt zu hoffen, dass die gesundheitspolitischen Akteure den Mut haben, diese vermeintlich kleinen Stellschrauben im Gesetz nachzujustieren – damit Deutschland im internationalen Wettbewerb um Investitionsentscheidungen auch in Zukunft noch gut aufgestellt ist und die Pharmabranche ihren Teil dazu beitragen kann, aus Deutschland wieder einen „gesunden Mann Europas“ zu machen.
Dr. Martin Gastens ist Vice President Biologics Drug Product Development und Geschäftsführer Forschung und Entwicklung bei AbbVie Deutschland.