An Bargeld zu kommen ist für mich oft gar nicht so leicht, auch wenn das Konto gedeckt ist. Meistens dann, wenn ich in fremden Städten bin. Warum? Weil ich als fast blinder Mensch kaum eine Chance habe, selbstständig einen Geldautomaten zu bedienen. Weil ich nicht sehen kann, was auf dem Display steht. Weil viele Geldautomaten mit einem Touchscreen ausgestattet sind, den ich nicht lesen kann, weil die Menüführung keine akustische Unterstützung bietet. Dann passiert es, dass die Karte wegen Falscheingaben mehrmals ausgespuckt wird – und die Kundenschlange hinter mir länger und länger wird. Wer einmal in einer solchen Situation war, bittet lieber Freunde und Angehörige um Unterstützung. Selbstbestimmung geht anders.
Ich gehöre nicht zu den Menschen, die viel über Ungerechtigkeiten jammern, aber solche Situationen sind äußerst frustrierend und oftmals auch demütigend. Und dabei völlig unnötig. Wir leben in einem der innovationsfähigsten Länder der Welt – bescheinigt vom Weltwirtschaftsforum 2018 –und doch hinken wir im Bereich Barrierefreiheit in Teilen so weit hinterher, als wären wir im letzten Jahrtausend stehengeblieben.
Das dickste Brett ist derzeit die Verpflichtung privater Anbieter wie beispielsweise Kinos, Museen, Verlage, Fernsehsender, Hotels oder Arztpraxen. Hier geht es nicht nur um bauliche, sondern auch um kommunikative und digitale Barrierefreiheit. Ticket-Automaten sind ein gutes Beispiel. Barrierefreie E-Books, Museumsführungen, Internetseiten in leichter Sprache oder Fernsehnachrichten in Gebärdensprache gehören dazu. Nicht zu vergessen zugängliche Arztpraxen und barrierefreie Gesundheitsversorgung. Barrierefreiheit hat eine tiefe soziale Dimension. Doch zum Glück leben wir nicht auf einer Insel, sondern haben europäische Nachbarn, die teils weiter sind als wir.
Zurückhaltung der Privatwirtschaft ist nicht akzeptabel
Nehmen wir Österreich: Seit Januar 2016 gilt dort das Gesetz über die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen. Alle Waren, Dienstleistungen und Informationen, die für die Öffentlichkeit bestimmt sind, müssen barrierefrei angeboten werden. Und das ist konsequent, denn Menschen mit Behinderungen sind selbstverständlich Teil der Öffentlichkeit, denn sie leben im gemeinsamen sozialen Umfeld, gehen ebenfalls ins Kino, wollen in Corona-Zeiten barrierefreie Online-Spiele spielen oder im Internet einkaufen.
Ich könnte viele weitere Beispiele nennen. In Deutschland jedoch beschleicht mich nicht selten das Gefühl, dass die Verpflichtung zur Barrierefreiheit von Unternehmen tunlichst vermieden werden soll. Dabei wird völlig vergessen, dass wir in einer sozialen Marktwirtschaft leben, in der sozialer Fortschritt gewissermaßen Staatsziel ist. Die vornehme Zurückhaltung in großen Teilen der Privatwirtschaft ist deswegen nicht akzeptabel. Wir als Gesellschaft und der Staat als ordnende Kraft dürfen hier niemanden aus der Verpflichtung entlassen.
Ein guter Ansatz ist deshalb die EU-Richtlinie 2019/882 des Europäischen Parlaments und des Rates von April 2019 – kurz: European Accessibility Act (EAA). Sie stellt deutlich höhere Anforderungen an die Barrierefreiheit von Produkten und Dienstleistungen im Privatsektor und muss bis spätestens Mitte 2022 von allen Mitgliedstaaten in nationales Recht umgewandelt werden.
Wichtig ist jetzt, dass wir in Deutschland bei der Umsetzung des EAA nicht den Fehler begehen, aus falschverstandener Rücksichtnahme ein Schmalspur-Gesetz auf die Schiene zu bringen. Wir sollten uns klarmachen, dass der EAA eine einmalige Chance bietet, die Innovationsfähigkeit in unserem Land unter Beweis zu stellen und eine Vorreiterrolle einzunehmen.
Es ist ein Privileg, dass wir in einem geeinten Europa friedlich zusammenleben können – auch, wenn es nicht immer konfliktfrei zugeht. Europa ist so viel mehr als Richtlinien, Europa ist eine Wertegemeinschaft, Europa sind wir alle. Ich bin überzeugt davon, dass wir gut daran tun, die europäische Idee durch gemeinsames Handeln zu stärken und mit Leben zu füllen. Gelungene Beispiele der Inklusion zeigen uns dabei den Weg. Genau dafür habe ich den „European Inclusion Summit“ ins Leben gerufen, bei dem es darum gehen wird, sich mit unseren europäischen Nachbarländern auszutauschen, zu vernetzen und voneinander zu lernen. Das Treffen soll Impulse setzen für die „European Disability Strategy“ der Europäischen Kommission. Und davon profitieren am Ende nicht nur rund 87 Millionen Menschen mit Behinderungen in ganz Europa, sondern wir alle.
Livestream am 17. November 2020, 9.00 bis 16.45 Uhr unter www.european-inclusion-summit.eu
Jürgen Dusel, von Haus aus Jurist, ist seit 2018 Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen.