Wir leben in einer Zeit von kurzen Tweets und klickbaren Überschriften. Die 280 Zeichen ersetzen im Alltag oft den Blick in die eigentlichen Zahlen, Daten und Fakten.
Der Dachverband der Krankenkassen wehrt sich in seinem DiGA-Bericht gegen ein zentrales Innovationsprojekt der Gesundheitspolitik. Man könnte ihn damit als „business as usual“ im politischen Betrieb abtun. Eine andere Lesart ist: Political Framing, wenn sich bestehende Strukturen verschieben.
DiGA kommen längst in der Versorgung an
Anders als im DiGA-Bericht des GKV-Spitzenverbandes angegeben, sind DiGA längst Teil der Versorgung: Bis heute wurden mehr als 200.000 DiGA verordnet. Die Anzahl der Verordnungen stieg zwischen Herbst 2021 und Herbst 2022 um 200 Prozent. In einer kürzlich veröffentlichten Umfrage der AOK unter 2.600 Versicherten gaben mehr als 70 Prozent der Befragten an, ihre DiGA so lange wie empfohlen oder sogar noch länger zu nutzen – eine hohe Compliance im Vergleich zu den durchschnittlich 50 Prozent bei medikamentösen Dauertherapien.
Auch der neue Weg, DiGA in den ersten Gesundheitsmarkt zu bringen, funktioniert. Zwar weist das Fast-Track-Verfahren noch einige Kinderkrankheiten auf, doch es bringt evidenzbasierte Versorgungsformen jenseits von Pilotprojekten direkt zu den Versicherten. Ob Ärzt:innen dann in ihrer Praxis eine DiGA verordnen, hängt auch von der Evidenz ab. So gaben in einer Befragung der Stiftung Gesundheit 60 Prozent der befragten Ärzt:innen an, dass die klinische Evidenz ihre Bereitschaft zum Einsatz einer DiGA steigerte. Diese Bedeutung ist auch den Herstellern bewusst: Alle aktuellen DiGA-Hersteller führen bereits RCT-Studien durch, den Goldstandard wissenschaftlicher Studien. Auch alle vorläufig gelisteten DiGA müssen bereits eine plausible Analyse von Nutzerdaten mit positiven Effekten vorweisen, die einer Vorstudie gleicht.
DiGA brauchen strukturelle Verbesserungen
Neben all dem Erreichten gibt es noch Potenzial für Verbesserungen. Angefangen bei der Vergütung: Seit Zulassung der ersten DiGA werden die Preise oft als „zu hoch“ kritisiert. Infolgedessen wurden Höchstbetragsregelungen eingeführt, mit Preisobergrenzen und einem Zwangsrabatt in Höhe von 25 Prozent ab 10.000 Verordnungen pro Jahr. Die Sorge, DiGA könnten zur „Goldgrube“ für Start-up-Unternehmen werden, basiert allerdings auf der fehlerhaften Annahme, die Kosten für die Entwicklung einer DiGA könnten durch hohe Verordnungszahlen ausgeglichen werden. Doch fallen für DiGA auch nach der Zulassung eine Reihe variabler Kosten an: Sei es für die Information von Ärzt:innen, für die technische Weiterentwicklung oder die Gewährleistung der Datensicherheit und den Kundensupport. Es braucht nun aufgeschlossene Gespräche und Lösungsansätze, wie neue Vergütungsmodelle für DiGA aussehen können, die den nachgewiesenen Nutzen der Anwendungen adäquat berücksichtigen.
Verbesserungswürdig sind außerdem die Zugangswege zu DiGA: Wer als Behandler:in oder Patient:in heute eine DiGA nutzen oder verordnen möchte, muss häufig Mehraufwand und Verzögerungen in Kauf nehmen. Die erneut verschobene Einführungsfrist für das DiGA-E-Rezept ist daher ein herber Rückschlag. Der Zugang zu ihrer DiGA wird manchen Patient:innen zudem von ihrer Krankenkasse erschwert: Nicht selten wird dort ein Rezept-Code erst nach Wochen ausgegeben oder auf andere Anwendungen verwiesen. Es braucht nun einen nutzerfreundlichen Zugangsweg für Patient:innen und einen einfachen, diskriminierungsfreien Verordnungsweg für Behandler:innen.
Auch die Abschaffung der ärztlichen Vergütungspauschale für die Erstverordnung einer DiGA durch den GKV-SV und die KBV war alles andere als eine Hilfe auf dem Weg zu einer digitalen Versorgung. Denn die vom GKV-SV bemängelte Integration von DiGA in die Versorgung wird nur dann verbessert, wenn der Aufwand der Behandler:innen für die Aufklärung über eine immer noch neue Versorgungsform adäquat vergütet wird.
Digitale Bildung ist gemeinschaftliche Aufgabe
Die Digitalisierung des Gesundheitswesens ist eine Mammutaufgabe, die nicht durch die Einführung einzelner Produkte wie DiGA gelöst werden kann. Es müssen nun die immer wieder verschobenen Digitalprojekte flächendeckend eingeführt werden: Wenn E-Rezept und ePA endlich Teil der Versorgungsrealität sind, werden auch DiGA einfacher zugänglich und können weitere Mehrwerte entfalten.
Medizinisches Fachpersonal und Patient:innen benötigen generelles Wissen über Datenschutzgrundlagen sowie digitale Kompetenzen, um die Programme zu nutzen. Ein Großteil dieser Wissensvermittlung wird aktuell von Herstellerunternehmen zusätzlich zu Produktinformationen und -schulungen übernommen. Doch digitale Bildung ist eine gemeinschaftliche Aufgabe, deren Umsetzung angesichts der zahlreichen anstehenden Großprojekte auf mehrere Schultern verteilt werden muss.
Vorreiterrolle nicht aufs Spiel setzen
Deutschland hat mit der Einführung des Konzepts DiGA eine Vorreiterrolle in Europa eingenommen. DiGA haben hohe Standards an Sicherheit, Datenschutz und Nutzerfreundlichkeit gesetzt und die „Digital Therapeutics made in Germany“ zu einer Art Markenzeichen gemacht. In Ländern außerhalb Deutschlands wurde deren Bedeutung längst erkannt: Ein Zulassungspfad für digitale Gesundheitsanwendungen wird in vielen Ländern geprüft, ein harmonisierter europäischer Weg könnte folgen.
Längst sind DiGA für tausende Patient:innen eine echte Hilfe. Diese Chance, künftige Versorgungsprobleme zu lösen, sollten wir nicht leichtfertig aufs Spiel setzen.
Wenn wir international auch weiterhin als Vorbild für innovative Gesundheitsversorgung gelten wollen, müssen wir diesen Bereich jetzt gemeinschaftlich mit einem klaren Bekenntnis zu digitalen Therapeutika weiterentwickeln, statt an alten Strukturen festzuhalten.
Henrik Emmert ist zweiter stellvertretender Vorstandsvorsitzender des Spitzenverband Digitale Gesundheitsversorgung und Mitgründer sowie Geschäftsführer des Digital Health-Unternehmens Aidhere.
Die promovierte Pharmazeutin Anne Sophie Geier ist Geschäftsführerin des Spitzenverband Digitale Gesundheitsversorgung.