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Gesundheit & E-Health

Standpunkte Knappheit als Chance

Jürgen Graalmann ist Geschäftsführender Gesellschafter und Tim Rödiger Partner Strategie bei den BrückenKöpfen
Jürgen Graalmann ist Geschäftsführender Gesellschafter und Tim Rödiger Partner Strategie bei den BrückenKöpfen Foto: privat

Seit Jahrzehnten dreht sich die Finanzierungsdebatte im Gesundheitswesen in einer Endlosschleife zwischen Mittelherkunft und Mittelverwendung, ohne das Problem einer nachhaltigen Finanzierung grundsätzlich zu lösen. Eine nachhaltige Finanzierung gelingt nur, wenn wir den Mittelbedarf in den Fokus nehmen.

von Jürgen Graalmann und Tim Rödiger

veröffentlicht am 10.07.2024

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In der Natur gibt es das Phänomen der Ameisenmühle. Laut Wikipedia folgen Wanderameisen meist den Pheromonspuren ihrer Vorgänger. Dies kann bei einer Überkreuzung der Spuren zum Laufen im Kreis führen. Sobald mehrere Ameisen dieser Spur folgen, verstärkt sich die Pheromonspur, wodurch sich das Verhalten auf immer mehr Ameisen überträgt und letztlich zu einem großen sichtbaren Strudel von Ameisen entwickelt. Meist laufen die Ameisen bis zum Erschöpfungstod im Strudel fort.

Schaut man auf die gesundheitspolitische Diskussion zur nachhaltigen Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung in den letzten 30 Jahren, zeigen sich ähnliche Erschöpfungserfahrungen. In einer Endlosschleife werden Mittelherkunft und Mittelverwendung diskutiert. Schier endlose Mittelherkunft-Debatten über mehr Steuermittel, höhere Beiträge oder neue Zuzahlungen werden ergänzt um die immer gleichen Themen bei der Mittelverwendung, wie die Überwindung der Sektorengrenzen oder die Ambulantisierung und die Verteilung über den Risikostrukturausgleich (RSA).

Einsteins Definition von Wahnsinn ist: immer wieder das Gleiche zu tun und zu erwarten, dass sich am Ergebnis etwas ändert. Nach über 100 Reformen zu Vergütungssystemen, Steuerzuschüssen und veränderten Beitrags- und Zuzahlungsmodellen steht das Gesundheitssystem am Rande der Erschöpfung. Das Ergebnis dieser Endlosschleife? Von 1994 bis 2014 stiegen die GKV-Ausgaben von 100 auf 200 Milliarden Euro. Der Anstieg von 200 auf 300 Milliarden dauerte nur acht Jahre.

Es geht um den Mittelbedarf

Trotz dieses sprunghaften Anstiegs des Mittelbedarfs, worüber reden wir? Sektorenübergreifende Versorgung, Ambulantisierung, mehr Steuern, höhere Beiträge, steuernde Zuzahlungen und eine Weiterentwicklung des RSA. Je Einwohner bezahlen wir mehr für Gesundheit und beschäftigen mehr Ärzte und Pflegende als unsere Nachbarländer. Dennoch laufen die Notaufnahmen voll, finden Patienten immer weniger Ärzte und in der Pflege zeigt sich ein nie gekannter Notstand. Und die Babyboomer kommen erst noch in das Rentenalter.

An alle die, die raus wollen aus dieser Endlosschleife, lasst uns einen Schritt zurücktreten. Was ist die entscheidende Betrachtungsebene für die Finanzierung? Die Antwort ist einfach, aber nicht leicht. Was wir bisher zumeist vergessen, ist die oberste Betrachtungsebene der Finanzierung: Es ist nicht die Mittelherkunft und auch nicht die Mittelverwendung, es ist der Mittelbedarf.

Letztlich entscheidet hauptsächlich der Mittelbedarf, ob wir weiterhin und nachhaltig eine gute Versorgung für jeden finanzieren können. Denn die Frage ist weniger, ob wir im Jahr 2040 statt heute 313 Milliarden Euro 500 Milliarden über Steuern oder über Beiträge finanzieren. Die entscheidende Frage ist, ob wir 500 oder 400 Milliarden Euro solidarisch finanzieren müssen. Ob über Steuern oder Beiträge, ob für EBM oder Hybrid DRGs ist für die Frage der nachhaltigen Finanzierung zweitrangig.

Mehr gesunde Jahre für einen nachhaltigen Mittelbedarf

Der Mittelbedarf wird wesentlich vom Gesundheitsstatus der Bevölkerung bestimmt. Wir alle kennen noch den unterschiedlichen Behandlungsbedarf bei Covid-Infektionen, der abhängig vom Gesundheitszustand war. Das sehen wir bei Schweregraden von Krebserkrankungen, bei Multimorbidität und beim Pflegebedarf. Je früher wir ein Krankheitsrisiko erkennen, desto besser können wir es beeinflussen. Die Erkenntnis ist einfach, aber die Umsetzung nicht leicht. Dennoch gibt es gute Beispiele.

Eine Untersuchung basierend auf einer Analyse der prospektiven UK Biobank-Studie zeigte, dass die Teilnahme am Gesundheitscheck des National Health Service (NHS) mit einem Rückgang der Morbidität und Mortalität verbunden war. Teilnehmer des „NHS Health Checks“ erkrankten über einen Nachbeobachtungszeitraum von neun Jahren unter anderem zu 19 Prozent seltener an einer Demenz, zu 15 Prozent seltener an einem Herzinfarkt und zudem seltener an Diabetes, einem Schlaganfall oder akutem Nierenversagen als die der Vergleichsgruppe (BMC Medicine 2024). Bei einer angepassten Startzeit des Nachbeobachtungszeitraums – ohne Berücksichtigung der ersten zwei Jahre – lag die durchschnittliche Risikoreduktion zwischen 20 und 40 Prozent. Das entspricht einem Unterschied im Mittelbedarf von 500 zu 400 beziehungsweise 300 Milliarden Euro.

Mehr gesunde Jahre als Systemziel verankern

Ja, auch bei uns gibt es Vorsorgeuntersuchungen. Aber sie werden im internationalen Vergleich weniger in Anspruch genommen. Und vielen Präventionsansätzen gelingt nicht, worauf es ankommt: eine dauerhafte Verhaltensänderung. Weniger als drei Prozent der GKV-Ausgaben werden für Prävention ausgegeben, wenig personalisiert, wenig digital gestützt und ohne direktes Feedback über Auswirkungen und Erfolg. Es gibt also Potenzial. Und mehr gesunde Jahren zahlen sich auch mehrfach aus. Mit dem sinkenden Versorgungsbedarf sinkt auch der Ressourcenbedarf, finanziell, ökologisch und personell. Mehr gesunde Jahre bedeuten ein gesünderes Leben für die Versicherten, eine gesündere Basis für unsere Produktivität, der Grundlage für unseren Wohlstand. Wir kommen aus einer erschöpfenden Endlosschleife in eine positive Spirale, von der jeder profitiert und die auch in Zukunft eine gute und bezahlbare Versorgung für jeden ermöglicht. Mehr gesunde Jahre sind gelebte Solidarität.

Mehr gesunde Jahre erfordern einen Übergang von der Verlängerung der quantitativen Lebenszeit (Lifespan) durch das Chronifizieren von Krankheiten zu einer Verlängerung der gesunden Lebenszeit (Healthspan) durch mehr gesunde Jahre.

Drei Hebel helfen dabei

Erstens eine stärkere Nutzung vorhandener Vorsorge- und Präventionsleistungen durch vereinfachten Zugang, digitale Verfügbarkeit, Personalisierung des Risikos und Anreize zur Inanspruchnahme, wie zum Beispiel ein direkter Versorgungszugang bei einem erhöhten Risiko.

Zweitens ein gezielter Ausbau präziser Vorsorge- und Präventionsleistungen, die persönliche Gesundheitsrisiken verständlich machen und die individuell besten „Interventionen“ für mehr gesunde Jahre empfehlen. Das kann eine Ernährungsumstellung aufgrund einer Unverträglichkeit sein oder eine Stärkung des Herz-Kreislauf-Systems aufgrund eines familiär bedingt höheren Herzinfarkt- oder Schlaganfallrisikos. Frühindikatoren wie Mikrobiom und Mitochondrien bieten einen vielversprechenden Ansatz, um präventive Maßnahmen effektiv zu gestalten. Diese Indikatoren sind zudem mess- und veränderbar, wodurch Fortschritte sichtbar werden. Wissenschaftliche Studien geben Hinweise darauf, dass funktionale Mitochondrien und ein gesundes Mirkobiom, die in Gesundheit verbrachten Jahre um bis zu zehn Jahre steigern können. „M&M-Prävention" bietet damit die Chance, einen echten Gestaltungsraum für Mitverantwortung bei der Gesundheit zu schaffen.

Drittens eine systemische Verankerung mehr gesunder Jahre in den Vergütungs- und Anreizsystemen von Leistungserbringern und Kostenträgern. Denn auch sie sollten für mehr gesunde Jahre ihrer Versicherten und Patienten belohnt werden.

Solidarität und Eigenverantwortung wieder zum Leben erwecken

Neue Ansätze und Konzepte ermöglichen mehr gesunde Jahre. Der Grundgedanke: Jeder hat einen eigenen individuellen Pfad zu mehr gesunder Lebenszeit, der familiäre, umwelt- und lebensstilbedingte Risiken berücksichtigt und alle wirksamen Früherkennungs-, Vorsorge- und Lebensstil-Interventionen zum richtigen Zeitpunkt individuell zur Verfügung stellt. Konzepte wie der „Continuous Health Circle“ zeigen, wie wir die neuen Ansätze systematisch in der Praxis verankern können.

Die drei Hebel reduzieren den Mittelbedarf. Wenn allein ein Gesundheits-Check das Risiko zwischen 20 und 40 Prozent senken kann, dann sollten wir die Nutzung erhöhen, stärker in Vorsorge und Prävention investieren und alle, die mithelfen, stärker belohnen. Erst dann werden wir zu einer nachhaltigen Finanzierung kommen und aus der Endlosschleife ausbrechen. Und nur dann können wir das Leistungsversprechen einer solidarischen Krankenversicherung weiter erfüllen – Zugang zu einer guten und bezahlbaren Versorgung für jeden unabhängig von Einkommen, Alter und Gesundheitszustand. So wird der Grundsatz der solidarischen Krankenversicherung wieder mit Leben gefüllt. Da heißt es in § 1 Solidarität und Eigenverantwortung: Die Krankenversicherung als Solidargemeinschaft hat die Aufgabe, die Gesundheit der Versicherten zu erhalten, wiederherzustellen oder ihren Gesundheitszustand zu bessern. Mehr gesunde Jahre eben.

Jürgen Graalmann ist Geschäftsführender Gesellschafter und Tim Rödiger Partner Strategie bei den BrückenKöpfen, eine Konzept- und Beteiligungsagentur im Gesundheitswesen. Mitgewirkt an diesem Standpunkt hat außerdem der Projektmanager Tim Kuschel.

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