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Standpunkte Umverteilung ist Gesundheitsfürsorge

Michael Janßen ist Vorstandsmitglied des Vereins demokratischer Ärzt*innen
Michael Janßen ist Vorstandsmitglied des Vereins demokratischer Ärzt*innen Foto: vdää

Weil die solidarische Bürgerversicherung in dieser Legislatur ausbleiben wird, müssten zumindest Beitragsbemessungsgrenze und Versicherungspflichtgrenze deutlich angehoben werden. Damit könnte die soziale Benachteiligung weiter Bevölkerungsteile ein Stück weit aufgefangen werden, meinen Michael Janßen und Felix Ahls, Vorstandsmitglieder des Vereins demokratischer Ärzt:innen.

von Michael Janßen

veröffentlicht am 22.08.2022

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Die ökonomische und soziale Benachteiligung weiter Bevölkerungsteile schädigt massiv deren Gesundheit, sie führt zu mehr Erkrankungen und zu einem kürzeren Leben. Die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) kann ein Instrument sein, diese Folgen sozialer Ungleichheit in der medizinischen Versorgung abzumildern, durch eine adäquate Beteiligung aller Einkünfte aber auch diese Ungleichheit selbst verringern und dadurch gleichzeitig finanziell stabiler werden.

In den Jahren zwischen der Finanz-Krise und der COVID-19-Pandemie wuchsen, laut Bundesgesundheitsministerium (BMG), die beitragsbasierten Einnahmen der GKV im Durchschnitt weitgehend proportional zum Anstieg der GKV-Ausgaben. 2020 und 2021 lagen – wegen der wirtschaftlichen Folgen der Pandemie-Maßnahmen – die Zuwächse bei den Beitragseinnahmen im Gesundheitsfonds erwartungsgemäß deutlich darunter. Für das nächste Jahr wird deshalb mit einem Defizit bei der GKV von 17 Milliarden Euro gerechnet.

Belohnung für Neupatient:innen ist absurd

Darauf hat das BMG nun mit dem Referentenentwurf eines Gesetzes zur finanziellen Stabilisierung der GKV reagiert. Da nach aktueller Gesetzeslage im Jahr 2023 der in der COVID-19-Pandemie beschlossene ergänzende Bundeszuschuss zum Gesundheitsfonds, der für 2022 14 Milliarden Euro beträgt, entfallen wird, würde „ohne zusätzliche Maßnahmen der durchschnittliche Zusatzbeitragssatz in der GKV im Jahr 2023 von derzeit 1,3 Prozent um rund einen Prozentpunkt steigen“. Deshalb werden in dem Entwurf verschiedene Akteure zur Kasse gebeten, darunter – völlig zu Recht – die Pharmaindustrie und auch die niedergelassenen Ärzt*innen, bei denen die „Neupatientenregelung“ gestrichen werden soll. Diese war mit dem Terminservice- und Versorgungsgesetz erst 2019 eingeführt worden und belohnte Ärzt*innen für die Behandlung von neuen Patient*innen zusätzlich mit zehn extrabudgetären Euro.

Man sollte meinen, dass es zum Versorgungsauftrag gehört, neue Patient*innen aufzunehmen! Eine Belohnung dafür ist absurd. Das sehen aber die Standesvertretungen durchaus anders. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung geht davon aus, dass die Praxen ihr Angebot wieder einschränken: „Das Vorhaben stellt sich für die Versicherten, die einen Termin erhalten wollen, auch als echte Leistungskürzung dar“. 

„Alternativen: Keine“? In den Wahlprogrammen steht anderes

Neben diesen und anderen Regelungen sollen aber auch die Beitragszahler*innen belastet werden: Die Zusatzbeiträge in der GKV sollen um 0,3 Prozentpunkte steigen. Angesichts der vielen anderen Kostensteigerungen, unter anderem bei Lebensmitteln, Heizen, Strom, wird dies für Menschen mit geringem Einkommen eine weitere Einschränkung ihrer Möglichkeiten und Gesundheit darstellen. Im Gesetzentwurf steht zu möglichen Alternativen wörtlich: „Keine.“ Das ist – vorsichtig ausgedrückt – frech. Denn in den Wahlprogrammen für die letzten Bundestagswahlen steht bei den zwei größten der drei Koalitionsparteien die Alternative: eine solidarisch finanzierte Bürger*innenversicherung, die wir Demokratischen Ärzt*innen vom vdää* seit Jahren fordern.

Bei den Grünen heißt es im Wahlprogramm: „Unser Ziel ist eine solidarisch finanzierte Bürger*innenversicherung, in der jede*r unabhängig vom Einkommen die Versorgung bekommt, die er oder sie braucht [...] Mit der Bürger*innenversicherung wollen wir alle in die Finanzierung eines leistungsstarken Versicherungssystems einbeziehen und so auch vor dem Hintergrund künftiger Kostensteigerungen im Gesundheitswesen für eine stabile und solidarische Lastenteilung sorgen. Auch Beamt*innen, Selbständige, Unternehmer*innen und Abgeordnete beteiligen sich mit einkommensabhängigen Beiträgen […] Die Beiträge sollen auf alle Einkommensarten erhoben werden, zum Beispiel neben Löhnen und Gehältern auch auf Kapitaleinkommen.“ Auch im SPD-Programm steht sie: „Wir werden eine Bürgerversicherung einführen. Das bedeutet: Gleich guter Zugang zur medizinischen Versorgung für alle, eine solidarische Finanzierung und hohe Qualität der Leistungen.“

Beitragssatz könnte um mindestens drei Punkte sinken

Eine Studie von Heinz Rothgang und Dominik Domhoff von der Universität Bremen aus dem Jahr 2017 rechnet vor, dass mit einer solchen Bürger*innenversicherung der Beitragssatz um mindestens drei Prozentpunkte sinken würde. Konkret würde das heute bedeuten, dass zum einen die Privatversicherten in die GKV und damit viele gut Verdienende und durchschnittlich gesündere Menschen in die GKV einbezogen würden. Zum anderen würden in einer konsequent solidarischen Bürger*innenversicherung alle lohnabhängig Beschäftigten auch mit einem Einkommen über der Beitragsbemessungsgrenze (ab welcher der Beitrag nicht mehr ansteigt, aktuell 4.837,50 Euro/Monat) ihr gesamtes Einkommen verbeitragen. Auch alle anderen Einkommensarten wie Kapitaleinkünfte und große Mieteinnahmen etc.  das sind immerhin ca. 30 Prozent des Volkseinkommens  würden ebenfalls verbeitragt und so an der Finanzierung der Gesundheitsversorgung beteiligt. Diese programmatischen Festlegungen in einem essentiellen sozialpolitischen Thema wurden offensichtlich vom kleinsten Koalitionspartner FDP ohne nennenswerten Widerstand von SPD und Grünen verhindert. 

Da es in dieser Legislaturperiode eine solche grundsätzliche Reform nicht geben wird, muss die absolute Untergrenze für einen Reformvorschlag lauten: Die Beitragsbemessungsgrenze und die Versicherungspflichtgrenze (bis zu der für lohnabhängig Beschäftigte eine Pflicht zur Versicherung in der GKV besteht) müssen deutlich angehoben werden. 

Der Kostendruck im Gesundheitswesen steigt nicht nur durch COVID-19 und die insgesamt wachsende Krankheitslast, angetrieben durch Klimawandel, Umweltzerstörung und damit neu und häufiger auftretende Krankheiten. Die bevorstehende Verschärfung der Wirtschaftskrise, die höheren Rüstungsausgaben und das Dogma der Schwarzen Null werden ebenfalls dazu beitragen. Eine Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums durch die hier vorgeschlagene Reform der GKV würde die Finanzierungsgrundlage der GKV stärken und gleichzeitig die soziale und gesundheitliche Ungleichheit verringern.

Michael Janßen (Foto) ist niedergelassener Arzt in Berlin. Er hat den Standpunkt zusammen mit Felix Ahls, Arzt in Düsseldorf, verfasst. Beide sind Mitglieder im Vorstand des Vereins demokratischer Ärzt*innen (vdää).

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