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Standpunkte Konsolidierung der Krankenversicherung – auch auf lange Sicht notwendig

Jürgen Wasem, Lehrstuhlinhaber für Medizinmanagement an der Universität Duisburg-Essen
Jürgen Wasem, Lehrstuhlinhaber für Medizinmanagement an der Universität Duisburg-Essen Foto: privat

Es ist unausweichlich, dass neue Regierung und Parlament zur kurzfristigen Stabilisierung der Kassenfinanzen ein Kostendämpfungsgesetz beschließen, schreibt Gesundheitsökonom Jürgen Wasem im Standpunkt. Effizienzsteigerungen sollten Vorrang vor Begrenzungen im Leistungskatalog haben, werden aber vermutlich nicht ausreichen, meint der Professor für Medizinmanagement. Und macht deshalb Vorschläge für die anstehenden Diskussionen.

von Jürgen Wasem

veröffentlicht am 24.02.2025

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Dass die Finanzen der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) extrem angespannt sind, ist inzwischen nicht mehr nur Experten bewusst – hat doch die große Mehrheit der Versicherten zuletzt deutliche Beitragssatzanstiege erfahren. Weitere Beitragssatzanstiege im Jahresverlauf erscheinen plausibel.

Es ist daher unausweichlich, dass neue Regierung und Parlament zur kurzfristigen Stabilisierung der Kassenfinanzen ein Kostendämpfungsgesetz beschließen. Quer durch die Leistungsbereiche sollte für zwei Jahre eine Begrenzung des Wachstums der Ausgaben maximal auf den Anstieg der beitragspflichtigen Einnahmen vorgesehen werden. Forderungen nach überproportional „mehr Geld“ für einzelne Bereiche werden sehr gut begründet sein müssen.

Im Rahmen des anstehenden Kostendämpfungsgesetzes sollte auch über eine Dynamisierung der Zuzahlungen gesprochen werden. Vom ersten Kostendämpfungsgesetz vor 50 Jahren bis zum GKV-Modernisierungsgesetz von 2003 ist dies immer wieder geschehen, seitdem aber unterblieben. Der Realwert der Zuzahlungen hat seit 2003 um ein Drittel abgenommen und ihre Bedeutung in der Finanzierung der GKV ist auch daher seitdem stetig gesunken. So wie Versicherungspflicht- und Beitragsbemessungsgrenze regelbasiert jährlich erhöht werden, sollte dies künftig auch für die Zuzahlungen gelten.

Ohne Scheuklappen diskutieren

Ein Kostendämpfungsgesetz kann aber nur zur kurzfristigen Stabilisierung dienen, als alleinige und zumal dauerhafte Antwort auf die Schere zwischen Einnahmen und Ausgaben ist es unzureichend. Die „Atempause“ durch Kostendämpfung muss vielmehr genutzt werden für beherzte strukturelle Veränderungen. Aus meiner Sicht ist es hierbei unvermeidlich in zweierlei Hinsicht zu denken: Einerseits benötigen wir Maßnahmen, die eine Steigerung der Effizienz der Gesundheitsversorgung fördern. Richtigerweise wird etwa eine intensivere Steuerung der Versicherten und Patienten gefordert. Andererseits aber müssen wir auch über den Umfang des solidarisch abgesicherten Leistungskataloges und seiner Entwicklung ohne Scheuklappen diskutieren.

Bei der Alterssicherung besteht weit über die Experten hinaus in der Gesellschaft ein Bewusstsein, dass wir wegen der demographischen Entwicklung beim Zuwachs der Renten die jüngere Generation nicht aus den Augen verlieren dürfen. Schon mit der Blüm’schen Rentenreform von 1989 wurde hier ein erster Schritt getan, unter Rot-Grün gab es um die Jahrtausendwende ebenfalls mutige Reformen – auch wenn die Maßnahmen in der Zeit seitdem teilweise wieder aufgeweicht wurden.

In der Krankenversicherung haben wir aber ebenfalls ein massives demographisches Problem. Zwar sind Renten- und Krankenversicherung insoweit nicht identisch, weil auch Junge Gesundheitsleistungen in Anspruch nehmen und Ältere auch Krankenversicherungsbeiträge zahlen. Aber wir haben auch in der GKV zu jedem Zeitpunkt eine ganz erhebliche intergenerationelle Umverteilung von jung nach alt – und die daraus resultierende Belastung für die jüngere Generation nimmt durch den demographischen Wandel, in den wir jetzt eingetreten sind, stetig zu. Der medizinische Fortschritt beschleunigt dies. So wie die Rentenreformen die Alterssicherung ausgabenseitig „demographiefester“ machten, so müssen wir dies m.E. auch in der Gesundheitsversorgung tun.

Effizienzsteigerungen haben Grenzen

Dabei ist natürlich klar: Effizienzsteigerungen haben Vorrang vor Begrenzungen im Leistungskatalog. Aber ich halte es für aussichtslos, dass wir die finanziellen Auswirkungen der demographischen Entwicklung durch Effizienzverbesserungen hinreichend neutralisieren können. Selbst wenn dies auf dem Reißbrett möglich wäre (was ich schon zu bezweifeln wage), sind in jedem Falle de facto die Veto- und Beharrungskräfte im Gesundheitssystem dafür zu stark.

Es bedarf daher einer intensiven gesellschaftlichen Diskussion, wie eine stärkere Begrenzung des Leistungskataloges und seines Wachstums denn umgesetzt werden könnte. Beim Durchforsten des Leistungskataloges können sehr unterschiedliche Kriterien angelegt werden, die es zu diskutieren gilt. In der Wissenschaft sind dazu ein paar Vorarbeiten geleistet worden, etwa in einem älteren Gutachten des Sachverständigenrates für das Gesundheitswesen, aber auch im Kontext der Priorisierungs- und Posterisierungsdebatten, die in einer Reihe von Ländern intensiver als bei uns geführt worden sind.

So könnte ein mögliches Kriterium die Schwere von Erkrankungen sein: Bei weniger schweren Erkrankungen ist eine weniger umfassende solidarische Absicherung vielleicht leichter zu rechtfertigen. Der Gesetzgeber hat diesen Weg ja z.B. vor 40 Jahren bei Arzneimitteln schon einmal mit der Negativliste für Medikamente gegen Bagatellerkrankungen bereits beschritten. Ein anderer Ansatz könnte z.B. sein, Dienstleistungen und Waren mit geringem Abgabepreis eher aus der Leistungspflicht herauszunehmen als solche mit einem hohen Abgabepreis. Auch dafür gab es mit der Negativliste für Hilfsmittel mit geringem Abgabepreis schon einmal ein Beispiel. Ein ganz anderer Weg wäre hingegen, stärker auf Kosteneffektivität von Leistungen zu schauen: Leistungen mit geringer Kosteneffektivität böten sich eher für einen Leistungsausschluss an als solche mit sehr guter Kosten-Nutzen-Relation.

Mir ist bewusst, dass solche Diskussionen nicht einfach sind, insbesondere auch, dass Politik sich schwer tun wird, sich ernsthaft in die Debatte einzulassen. Auch ist mir bewusst, dass nahezu jede Begrenzung von Leistungen mit potenziell unerwünschten Umverteilungswirkungen einhergeht. Aber wir müssen uns deutlich machen, was die Konsequenz ist, wenn wir darauf verzichten: weiterhin – und wegen der Demographie sogar verstärkt – steigende Beitragssätze. Erstaunlich lange sind steigende Beitragssätze relativ leicht durchsetzbar gewesen: von 8 Prozent 1970 auf 12 Prozent zur Zeit der Wiedervereinigung bis auf heute 17 Prozent. Dies war aber nur möglich, weil wir in dieser Zeit weit überwiegend gutes Wirtschaftswachstum hatten – so dass die steigenden Anteile für die GKV aus einem wachsenden Kuchen herausgeschnitten wurden.

Mag sein, dass wir auch absehbare Zeit auch wieder so großes reales Wachstum haben werden, dass das Kuchenstück für die GKV noch weiter deutlich wachsen kann. Aber ich gestehe, dass ich uns das zwar wünsche, aber skeptisch bin. Die Demographie wartet nicht, daher sollten wir die notwendige Diskussion jetzt – während des allfälligen Kostendämpfungsgesetzes – beginnen.

Professor Jürgen Wasem hat den Lehrstuhl für Medizinmanagement an der Universität Duisburg-Essen inne. Zudem ist der Gesundheitsökonom in vielen andere Funktionen im Gesundheitswesen tätig, unter anderem als Unparteiischer Vorsitzender des Erweiterten Bewertungsausschusses in der vertragsärztlichen Versorgung.

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