Die Corona-Krise ist auch eine Krise der ambulanten Versorgung zahlreicher Patientinnen und Patienten mit logopädischer Therapie. Als die logopädische Versorgung mit dem Lockdown im März 2020 aufgrund der hohen Ansteckungsgefahr mit dem Covid-19-Virus zusammenzubrechen drohte, wurde Logopädinnen und Logopäden von den gesetzlichen Krankenkassen erstmals die Möglichkeit eingeräumt, ihre Patienten auch per Videotherapie zu behandeln. Allerdings galt diese nur befristet bis Ende Juni 2020. Seitdem ist die Abrechnung dieser Form der Leistungserbringung unter Verweis auf die rückläufigen Infektionszahlen nicht mehr gestattet.
Viele niedergelassene Logopädinnen und Logopäden berichten, dass in der Folge zahlreiche Behandlungen nicht abgeschlossen beziehungsweise durchgeführt werden können, weil Patientinnen und Patienten trotz umfassender Hygienemaßnahmen in Sorge vor einer Infektion es vermeiden, den Weg in die Praxis auf sich zu nehmen. Diese Sorge bezieht sich nicht nur auf eine mögliche Infektionsgefahr in der Praxis, sondern auch im Rahmen der Anfahrtswege. Dabei spielen auch die wieder stark ansteigenden Infektionszahlen, die mit dem beginnenden Herbst zunehmenden „üblichen“ Erkältungskrankheiten sowie die neueren Erkenntnisse über mögliche schwerwiegende Folgen einer Covid-19-Infektion eine große Rolle.
Wir befürchten auch, dass neu betroffene Patientinnen und Patienten nicht oder nur verzögert eine notwendige Behandlung beginnen. Zudem haben wir den Eindruck, dass Ärztinnen und Ärzte sich in der Verordnung von Heilmitteln teilweise zurückhalten und notwendige Incoming-Regeln zu Therapieunterbrechungen oder –abbrüchen führen. Diese Situation wird sich aller Voraussicht nach zur kalten Jahreszeit weiter zuspitzen.
Ohne Videobehandlung geht es derzeit nicht
Alle diese Entwicklungen haben dazu geführt, dass die Versorgung von Patientinnen und Patienten, die auf logopädische Therapie angewiesen sind, aus unserer Sicht ohne die Option der Videobehandlung aktuell nicht ausreichend gewährleistet werden kann.
Dabei haben logopädische Praxen und auch Patientinnen und Patienten in den dreieinhalb Monaten vom 18. März bis Ende Juni 2020 sehr gute Erfahrungen mit der Anwendung der Videobehandlung gemacht. Die Implementierung und Nutzung dieser Versorgungsform durch unsere Berufsgruppe war außerordentlich erfolgreich: Eine Befragung der Hochschule für Gesundheit in Bochum (hsg) beispielsweise ergab, dass innerhalb von acht Wochen mehr als 80 Prozent der befragten Praxen Videobehandlungen in ihr Behandlungsrepertoire aufgenommen haben. Im selben Zeitraum wurden zahlreiche weitere wissenschaftliche Studien und Datenerhebungen zur Gestaltung und Nutzung digitaler Angebote in der logopädischen Versorgung durchgeführt – davon wird auch die zukünftige Versorgung profitieren.
Patienten dürfen nicht auf Einzelfallentscheidungen angewiesen sein
Es darf nun nicht sein, dass seitdem nur diejenigen per Video eine Behandlung erhalten, denen die jeweilige Krankenkasse dies in einer Einzelfallentscheidung genehmigt, die sich dies als Selbstzahlerleisten können und aktuelle Versorgungsoptionen Privatpatienten vorbehalten bleiben.
Temporäre regionale Ausnahmeregelungen für eng umschriebene Gebiete mit besonders gravierenden Corona-Fallzahlen, wie dies der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) Mitte September 2020 beschlossen hat, werfen zahlreiche Fragen in der fachlichen und organisatorischen Umsetzung auf und reichen nach unserer Überzeugung zudem nicht aus. Denn die Sorge der (häufig Risiko-) Patientinnen und Patienten vor einer Ansteckung ist nicht regional begrenzt und sie entsteht auch nicht erst dann, wenn eine Region als Corona-Hotspot identifiziert wird und von den Behörden zusätzliche Lockdown-Maßnahmen ergriffen werden.
Nicht ohne Grund weisen unabhängige Experten, wie die des Hygiene Technologie Kompetenzzentrums (HTK) Bamberg, auf das hohe Infektionsrisiko gerade in der logopädischen Arbeit hin: „In der logopädischen Arbeit wird durch das Sprechen und die Arbeit an der Stimme mit Singelementen, dem Kontakt mit Sputum und einer Kontaktzeit von oft über 45 Minuten in einem Aerosol- und Tröpfchen angereicherten Raum gearbeitet. Auch kann der Mindestabstand von 1,5 – 2 Meter nicht immer eingehalten werden. Dies gilt insbesondere dann, wenn aus therapeutischen Gründen ein physischer Kontakt zum Patienten hergestellt werden muss.“ (Broschüre „Covid-19 Pandemie: Risikoarmes Arbeiten im Alltag einer Logopädischen Praxis“, S. 5). Zudem besteht für die Sichtbarkeit des Mundbildes in vielen Fällen eine fachliche Notwendigkeit und bis heute liegt uns – auch aufgrund behördlicher Hindernisse und mangelnder Unterstützung – keine adäquate Schutzmaske vor. Hier kann das gezielte Einsetzen von Videotherapie ein wichtiges Kompensationstool sein.
Auch die zuständige Berufsgenossenschaft bgw empfiehlt mit dem Fokus des Schutzes der Leistungserbringer die Videobehandlung im „SARS-CoV-2-Arbeitsschutzstandard für logopädische Praxen“ (Stand: 20. Juli 2020, S. 3): „Anamnesen, Sprach-, Sprech- und Stimmtherapien (ausgenommen Dysphagien) sowie Angehörigengespräche und Elternberatung sollten, soweit möglich, in Form von Tele- bzw. Online-Angeboten durchgeführt werden.“
Damit sich Patientinnen und Patienten auf eine notwendige logopädische Therapie einlassen können brauchen sie die Sicherheit, dass sie diese gegebenenfalls auch als Videobehandlung durchführen können. Deshalb ist es dringend nötig, dass die Videobehandlung im Bereich der Logopädie nach den von Mitte März bis Ende Juni geltenden Bedingungen so lange wieder ermöglicht wird, so lange das Ansteckungsrisiko mit dem Covid-19-Virus dies notwendig macht.
Dagmar Karrasch ist Präsidentin des Deutschen Bundesverbandes für Logopädie.