Stellen wir uns folgendes Szenario vor: Eine Frau, 65 Jahre alt, fühlt sich häufig abgeschlagen und kämpft mit Schwindelgefühlen. Ein Blick auf ihren Digitalen Patient:innen-Zwilling verrät ihr: Sie hat einen Blutdruck von 150/90 mmHg; er ist also deutlich zu hoch. Das virtuelle Abbild hatte der Patientin schon lange Warnsignale gegeben, die sie jedoch ignoriert hat. Bis jetzt, denn nun ergreift sie endlich Maßnahmen, um ihren Blutdruck wieder zu regulieren.
Leider zeigen die regelmäßigere Bewegung und ihre Gewichtsreduktion keinen ausreichenden Effekt. Die Patientin soll daher ein Medikament zur Blutdrucksenkung einnehmen. Und hier kommt wieder ihr Digitaler Zwilling ins Spiel. Schließlich weiß ihr virtuelles Abbild genau, welches Medikament bei ihr am besten wirken wird, sodass ihr unangenehme Nebenwirkungen von alternativen Medikamenten erspart bleiben.
Was schon fast nach Science-Fiction klingt, ist in der Forschung ein heiß diskutiertes Thema. Bislang kommen Digitale Zwillinge noch überwiegend in der industriellen Produktion zum Einsatz, nämlich dann, wenn es darum geht, individuelle und kostengünstige Produkte in großer Anzahl herzustellen. Dafür braucht es eine wandelbare Produktionsumgebung, die in der Lage ist, sich flexibel auf neue Gegebenheiten einzustellen.
Verwaltungsschalen als Basis Digitaler Zwillinge
Ein Digitaler Zwilling macht genau das möglich. Allgemein gesprochen, handelt es sich dabei um ein virtuelles Abbild eines physischen Guts. Dieses bildet nicht nur den aktuellen Zustand des Guts ab, sondern ist auch in der Lage, Vorhersagen zu dessen Verhalten zu treffen. Eine weit verbreitete technische Grundlage des Digitalen Zwillings sind Verwaltungsschalen, also standardisierte Daten- und Dienstmodelle, die unterschiedlichste Assets des physischen Guts repräsentieren.
Handelt es sich etwa um den Digitalen Zwilling einer Werkzeugmaschine, so enthalten die Verwaltungsschalen statische Daten wie Datenblätter sowie Live-Daten zum realen Zustand der Maschine. All diese Informationen können mithilfe von Algorithmen verarbeitet werden. Damit lassen sich beispielsweise Vorhersagen dazu treffen, wann Bauteile verschleißen und ausgetauscht werden müssen, sodass die Wartung optimiert werden kann.
Der Mensch – ein komplexes System
Im Gegensatz zum industriellen Einsatz stellt der Mensch ein wesentliches komplexeres System dar, um es mit einem Digitalen Zwilling abzubilden. Schließlich ist nicht nur jeder Mensch anders. Auch die verschiedensten physiologischen Prozesse, die innerhalb eines Körpers ablaufen, sind in der Medizin und Biologie bei Weitem noch nicht abschließend erforscht. Wie also soll ein virtuelles Abbild von etwas erstellt werden, über dessen Verhaltungs- und Funktionsweisen noch nicht alles bekannt ist?
Was zum einen eine große Schwierigkeit bei der Erstellung Digitaler Patient:innen-Zwillinge darstellt, ist zum anderen das große Potenzial, das sich durch deren Einsatz für die Medizin bietet. So könnten uns unsere virtuellen Abbilder in Zukunft entscheidend dabei helfen, Krankheiten früher zu erkennen, die Diagnostik zu verbessern und Therapien zu optimieren. Der Digitale Zwilling kennt die bestmögliche Behandlung einer Erkrankung quasi bereits, bevor die Krankheit überhaupt ausgebrochen ist.
Tatsächlich sind einige Unternehmen und die Wissenschaft schon sehr weit darin, zumindest einzelne Stoffwechselsysteme oder Organe mit einem Digitalen Zwilling abzubilden. So etwa in der Kardiologie, wo es darum geht, ein digitales Zwillingsherz zu erzeugen. Mit dessen Hilfe könnten dann ganze Herz-Operationen simuliert und der Therapieerfolg entscheidend erhöht werden.
Technische und rechtliche Hürden
Was aber noch relativ wenig in der Forschung angegangen wird, ist die vollständige Synthese all dieser „Einzel-Avatare“ zu einem kompletten Simulationsmodell eines Menschen. Die Entwicklung eines solchen holistischen Digitalen Patient:innen-Zwillings gilt als die größte Herausforderung der aktuellen Forschungsarbeiten. Das ist auch kein Wunder, gleicht es nicht nur einer Mammutaufgabe, all die einzelnen Digitalen-Zwillings-Systeme zusammenzuführen, sondern diese auch noch über Schnittstellen interoperabel zu machen.
Was es dazu braucht, sind vor allem riesige Datenmengen – insbesondere auch in Form von Echtzeitdaten, die mittels eines fortlaufenden Gesundheitsmonitorings erhoben werden. Darüber hinaus werden nutzungsfreundliche Systeme benötigt, um all die Daten und Modelle in einen gemeinsamen Kosmos zu integrieren. Und das sind natürlich nur ein paar der technischen Herausforderungen, wenn wir einmal von den regulatorischen und juristischen Hürden – gerade mit Blick auf den Datenschutz – absehen.
Weniger Tierversuche notwendig
Angenommen, der Forschung gelingt in den nächsten Jahrzehnten aber ein entsprechender Durchbruch, dann würde dies ein neues Zeitalter für die Studienlandschaft einläuten. Während klinische Studien zur Zulassung eines neuen Medikaments heute mitunter einige Jahre in Anspruch nehmen, könnten diese Zyklen mit Digitalen Patient:innen-Zwillingen in Zukunft um ein Vielfaches verkürzt werden.
Ganze Datenbanken ließen sich mit den virtuellen Abbildern erstellen und die Wirkungsweisen des Medikaments bei Tausenden digitalen Patient:innen simulieren. Besonders interessant sind zudem Digitale Zwillinge von vulnerablen Gruppen wie schwangeren Personen oder Kindern, die sonst häufig ausgeschlossen werden. Auch Tierversuche würden wesentlich weniger notwendig, wenn bereits das virtuelle Modell eines Menschen dessen Reaktion auf ein Medikament darstellen kann.
Natürlich ist es bis dahin noch ein weiter Weg; diesen zu beschreiten, lohnt sich aber definitiv. Und deshalb ist es auch so wichtig, auf wissenschaftlicher Ebene mit ersten Proof-of-Concepts-Studien die Entwicklung eines vollständigen Digitalen Patient:innen-Zwillings anzustoßen. Auch auf politischer Ebene werden nach und nach einige wichtige Weichen in Richtung Digitalisierung gestellt, wie zumindest der kürzliche Kabinettsbeschluss des Gesundheitsdatennutzungsgesetzes zeigt. Diese eingeschlagene Richtung gilt es nun weiterzuverfolgen.
Dr. Theresa Ahrens ist Leiterin der Abteilung Digital Health Engineering am Fraunhofer-Institut für Experimentelles Software Engineering IESE in Kaiserslautern.