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Gesundheit & E-Health

Standpunkte Ohne Netzwerk keine Chance

Alexia Zurkuhlen und Tassilo Mesenhöller
Alexia Zurkuhlen und Tassilo Mesenhöller Foto: Jill Flug / RAPD Bergisches Land

Ob selber pflegebedürftig oder pflegend: Weit über sieben Millionen Menschen kämpfen sich hierzulande durch die Herausforderungen der Pflege in den eigenen vier Wänden. Gelingen kann das nur mit einer deutlich stärkeren Vernetzung aller Beteiligten, meinen Alexia Zurkuhlen und Tassilo Mesenhöller im gemeinsamen Standpunkt. Grundlage für Verbesserungen dafür wäre aus ihrer Sicht allerdings auch, dass häusliche Pflege nicht länger eine Black Box bleibt.

von Alexia Zurkuhlen und Tassilo Mesenhöller

veröffentlicht am 17.02.2025

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Eine 97-jährige Dame sagte vor kurzem: „Hätte ich gewusst, dass alt werden so viel Umstände macht, hätte ich es gelassen.“ Mit dem Alter kommen Herausforderungen, für die unser System nur unzureichende Lösungen hat. Dafür verlässt es sich immer mehr auf pflegende An- und Zugehörige. Obwohl diese allein durch ihre große Zahl eine entscheidende Wählergruppe sind, spricht auch kurz vor der Bundestagswahl kaum jemand über ihre täglichen Herausforderungen im Pflege-Dschungel.

In der Tat sind in Deutschland aktuell etwa 5,7 Millionen Menschen im Sinne des SGB XI pflegebedürftig (Statistisches Bundesamt, 2025). 86 Prozent von ihnen, also 4,9 Millionen, werden zu Hause versorgt, 67 Prozent ausschließlich oder überwiegend durch An- und Zugehörige – das entspricht 3,8 Millionen Menschen, die ausschließlich oder überwiegend durch An- und Zugehörige zu Hause versorgt werden. Berücksichtigen wir, dass jeder Pflegebedürftige von zwei oder mehr Personen versorgt wird, dann reden wir über eine Gruppe von weit über sieben Millionen Menschen.

Fast ohne Unterstützung

Insgesamt müssen diese sieben Millionen Personen Entscheidungen treffen, die die Gesundheit und das Leben ihrer Angehörigen beeinflussen – und das weitgehend ohne Unterstützung und Supervision. Sie sind täglich mit Fragen konfrontiert, wie: Nimmt mein Angehöriger die korrekten Medikamente zur richtigen Tageszeit? Trinkt er/sie ausreichend? Die Liste ist beliebig erweiterbar, sie ist so vielfältig wie das Leben.

Es ist unschwer abzuleiten, in welch angespannter Situation sich diese Menschen befinden und welchen Belastungen sie ausgesetzt sind – zumal, wenn sie parallel berufstätig sind. Vereinbarkeitsangebote wie etwa das NRW-Landesprogramm zur „Vereinbarkeit von Beruf & Pflege“, das vom Kuratorium Deutsche Altershilfe begleitet wird, sind noch die Ausnahme. Familienpflegezeit und Familienpflegebudgets bieten zwar einen gewissen arbeitsrechtlichen und finanziellen Schutz, reichen aber nicht aus.

Existenzangst und Einsamkeit

Die immer weiter steigenden komplexen Versorgungslagen, wie zum Beispiel bei Demenzerkrankungen, überfordern viele sorgende An- und Zugehörige. Sie kämpfen mit Existenzängsten und Einsamkeit – ihrer eigenen und der ihrer Angehörigen. Der Bürokratieaufwand etwa bei der Antragstellung ist für die meisten kaum noch zu bewältigen. Hinzu kommen die steigenden Kosten, immer längere Wartelisten und/oder weite Wege zu Arztpraxen sowie überlastete ambulante Pflegedienste. Dadurch entstehen oft vermeidbare Notaufnahmen, und stationäre Pflege wird oft in einem fortgeschrittenen schlechten gesundheitlichen Zustand angetreten. Beides führt zu dramatischen Erfahrungen für die Menschen mit Pflegebedarf und Verzweiflung bei allen pflegerisch Engagierten.

Was die Lage noch zusätzlich erschwert: Die häusliche Pflege ist eine Black Box. Die Dokumentation der im Haushalt erbrachten Pflegeleistungen hat, wenn überhaupt vorhanden, den Informationswert der 1990er Jahre. Was ab Januar 2025 mit der elektronischen Patientenakte (ePA) erzielt werden soll, eine wissenschaftliche Auswertung der Versorgungsdaten nämlich, ist für Pflegedaten noch lange nicht in Sicht. Dabei sind diese von hoher Relevanz. Digitale und sektorenübergreifende Dokumentation macht aus Einzelfällen Entwicklungen und Muster, dies ermöglicht eine passgenauere Ressourcen-Allokation.

Vielzahl von unvernetzten Akteuren

Häusliche Pflege beschäftigt eine Vielzahl von Systemakteuren. Nebst den An- und Zugehörigen, inkusive Nachbarn und Haushaltshelfern, mindestens die Pflegekräfte, Ärzteschaft, Kliniken, Kommunen sowie Kranken- und Pflegekassen. Dies muss gesteuert werden, um Ressourcen zu heben. Um vorhandene Ressourcen regional-vernetzt und bedarfsorientiert gebündelt zu erbringen, ist eine strukturelle Pflegereform unabdingbar. Sie hat vier Komponenten:

An erster Stelle bedarf es einer partizipativen Netzwerk-Governance, um eine Verzahnung und Abstimmung aller Beteiligten zu ermöglichen. Gesundheitsnetzwerke, Caring Communities oder Sorgegemeinschaften sollen Versorgungspläne aufstellen und Hilfen für An- und Zugehörige aufzeigen – und das unabhängig von kommerziellen Interessen. Der genossenschaftliche Gedanke ist hier von hoher Relevanz, um eine Unabhängigkeit in der Vermittlung von Angeboten sicherzustellen.

Zweitens muss diese intersektorale und interprofessionelle Vernetzung zwingend digital gestützt und datenbasiert sein. Dritter Ansatz ist die offensive Nutzung von technischen und baulichen Lösungen für alters- und pflegegerechte Wohnorte und Quartiere. Viertens müssen Prävention und Kuration in unserem Versorgungssystemen enger gedacht und finanziert werden.

Vom Menschen aus denken

Politik und Sozialsysteme haben den Großteil der erforderlichen Pflegeleistungen buchstäblich „privatisiert“ – will heißen: in die Hände der Angehörigen gegeben. Hier findet der tatsächliche „Pflegenotstand“ statt. Das ist schlichtweg inakzeptabel. Ein Paradigmenwechsel wird dringend benötigt, um Pflege endlich von den Menschen aus zu denken.

Sicherlich ist hier Politik gefragt; erste Ansätze liegen mit dem Pflegekompetenzgesetz und dem Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetz vor. Gefordert sind aber auch die Zivilgesellschaft und die Wirtschaft. Wir als Kuratorium Deutsche Altershilfe wollen gerne mit daran arbeiten, dass sich das lösungsorientierte Zusammenspiel von Politik, Zivilgesellschaft und Wirtschaft verbessert.

Alexia Zurkuhlen ist Vorständin des Kuratoriums Deutsche Altershilfe (KDA). Tassilo Mesenhöller, ist Projektleiter des Regionalbüros Alter, Pflege und Demenz Bergisches Land und Vorstandsvorsitzender des lokalen Pflegedienstleister-Verbunds Teheïm Solingen.

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