Die Pandemie hat die Pflegebranche verändert. Auf der einen Seite hat die Bedeutung der Pflege in der Öffentlichkeit einen neuen Stellenwert erfahren, auf der anderen Seite hat die Pandemie in aller Deutlichkeit gezeigt, mit welchen Herausforderungen unsere Branche kämpft: Fachkräftemangel, Zeitdruck und Ausbildungsqualität. Aus meiner Sicht ist es elementar, jede Pflegekraft menschlich und würdevoll und nicht als Ressource zu behandeln. Wir – als Arbeitgeber – sollten unsere Mitarbeiter:innen maximal entlasten und ihnen einen sicheren und modernen Arbeitsplatz bieten. Dabei ist es wichtig, die Arbeitsbedingungen nachhaltig zu verbessern und mehr Zeit für den Menschen – also die Patienten und die Pflegekräfte – zu schaffen, ohne die Wirtschaftlichkeit aus den Augen zu verlieren. Ich bin überzeugt, dass wir mehr digitale Lösungen brauchen, zum Beispiel im Bereich der Kommunikation, der Logistik oder auch im Bereich der Pflicht- und Fachfortbildungen.
Gerade der Bereich e-Learning birgt große Chancen für die Branche. Die Arbeitnehmer sind in der Regel schon lange bereit. Ich beobachte seit Jahren eine rasante digitale Kompetenzsteigerung bei meinen Pflegekräften – quer durch alle Altersgruppen. Fast jede:r Mitarbeiter:in hat heute ein Smartphone. Digitale Angebote und virtuelles Lernen kommen aber bisher für viele Pflegedienstleister nicht in Frage: Der Aufwand erscheint zu groß oder sie befürchten, dass ihnen das technische Know-how fehlt. Auch die starke Fragmentierung des Marktes steht im Weg. Viele Unternehmen halten sich schlicht für zu klein, um digitale Tools für die Pflegekräfte zu implementieren.
Mit der Pandemie sind einige dieser Hemmschwellen gezwungenermaßen gefallen. Wir erleben bei vielen Pflegedienstleistern einen Aha-Moment, wenn sie feststellen, dass e-Learning viele Herausforderungen für sie lösen kann. e-Learning macht Fortbildung individueller und flexibler. Niemand ist von externen Angeboten abhängig oder an Kurstermine gebunden. Die Arbeitgeber orchestrieren mit intelligenten Lernmanagementsystemen die Fort- und Weiterbildungen, weg von Gruppenschulungen hin zu individualisierten Kursen je nach Bedarf des Mitarbeiters. So können sie ihre Mitarbeiter:innen individuell und gezielt fördern. Jede:r Teilnehmer:in bestimmt dabei selbst, wie lange er/sie welches Thema lernen kann oder möchte.
Ein Zurück wird es nach der Pandemie nicht mehr geben
Virtuelles Lernen bietet also weit mehr Möglichkeiten als der bekannte Frontalunterricht durch einen Vortragenden. Von abgefilmten Frontalvorträgen über moderne Animationsfilme, Podcasts, Quizz-Apps, interaktive Onlinetools für Spezialthemen oder Artikel mit Online-Fragenkatalog habe ich schon vieles gesehen. Aber nicht alles passt zu jedem Bedarf. Deshalb ist es wichtig, dass Arbeitgeber sich im Vorfeld Gedanken über die Anforderungen machen, die sie an ein e-Learning-System habe.: Wie tief sollte das Branchenwissen des Anbieters sein? Welche Formen der Zertifizierung müssen möglich sein und wie sollen die Ergebnisse der Lernenden kontrolliert werden?
Gerade das Controlling des Lernerfolges ist ein Punkt, der viele Pflegedienstleister davon abhält, den nächsten Schritt in die digitale Welt zu gehen. Sie befürchten, dass sie die Kontrolle über die Lernerfolge ihrer Mitarbeitenden verlieren. Diese Unternehmen sollten sich klarmachen, dass Face-to-Face-Seminare und Lehrgänge oft nichts anderes sind als klassische Anwesenheitspflicht. Wie früher in der Schule ist es leicht, die Stunden abzusitzen. Bei einem gut strukturierten e-Learning-Angebot ist das Lernen dagegen unterhaltsam und die Ergebnisse werden bestenfalls nachhaltig kontrolliert.
Auch wenn die digitalen Angebote besser werden, die Technik sich stetig entwickelt und sowohl die Politik als auch die täglichen Rahmenbedingungen ein Umdenken fördern und fordern, steht die Pflege vor oder bestenfalls an der Schwelle zur Digitalisierung. Erste zarte Pilotprojekte und viele mühsame und langjährige Vorbereitungen haben unsere Branche durchaus befähigt durchzustarten. Mit dem Fortschreiten der technischen Möglichkeiten wie Augmented- oder Virtual-Reality werden sich noch viele spannende Möglichkeiten für ergeben. Jetzt müssen Arbeitgeber und Führungskräfte sich nur noch trauen und diesen Möglichkeiten offen begegnen, um den Herausforderungen der Pflegebranche zukunftsfähig zu begegnen.
Dr. Alexander Schwandt ist Geschäftsführer der Kinderintensivpflegedienste Gänseblümchen in Berlin und Balu in Hamburg, Gründer der e-Learning-Plattform „smartAware“ und Vorstand des Bundesverbandes Häuslicher Kinderintensivkrankenpflege e.V.