Ende November 2020 veröffentlichte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) angepasste Empfehlungen für körperliche Aktivität. Bemerkenswert an dieser Nachricht ist, dass die bisher geltenden Mindestanforderungen nach oben korrigiert wurden. In der Zielgruppe der Erwachsenen (18-64 Jahre) sind demnach 150 bis 300 Minuten moderat fordernde Aktivitäten, wie beispielsweise schnelles Gehen oder Radfahren, sowie zusätzlich zweimal pro Woche Kräftigungstraining, die gesundheitlich notwendige Untergrenze. Es handelt sich somit im übertragenen Sinne um eine wöchentlich erforderliche Körperhygiene, die nicht diskutierbar ist. Ähnlich dem täglichen Zähneputzen. Man stelle sich den Andrang in Zahnarztpraxen vor, wenn das tägliche Zähneputzen nicht mehr als „Muss“, sondern nur noch als „Soll“ oder „Kann“ verstanden würde.
Auf Basis der neuen Empfehlungen fallen zirka 25 Prozent der Erwachsenen und 80 Prozent der Jugendlichen – deren Bewegungsbedarf höher ist – in die Kategorie des Bewegungsmangels. Dies ist ein Risikofaktor, der täglich in Praxen der Allgemeinmedizin oder der Inneren Medizin in Form zivilisatorischer Erkrankungen wie Diabetes, Übergewicht oder Herz-Kreislauferkrankungen sichtbar wird. Wie können diese Mindestanforderungen erreicht werden?
Deutschland verfügt über eine hervorragende Infrastruktur an Sport- und Bewegungsanbietern. Zu nennen sind primär die 88.000 Sportvereine mit rund 27,5 Millionen Mitgliedern als organisierter Sport sowie die kommerziellen Fitnesssportanbieter mit zusätzlich knapp 11,7 Millionen Mitgliedern. Die Erfüllung der Bewegungsanforderungen kann natürlich auch durch eigenorganisiertes Sporttreiben, zum Beispiel zu Hause oder in der Natur, realisiert werden. Fallen allerdings in Zeiten der Covid-19-Krise die ersten beiden Angebots-Optionen weg, so fehlen wichtige Säulen in der bewegungsorientierten Gesundheitsversorgung. Hinzu kommt der Sport als Pflichtangebot an öffentlichen Schulen, der vielerorts pandemiebedingt, zum Beispiel aufgrund hygienisch ungeeigneter Sportstätten, zum Erliegen kam oder stark eingeschränkt wurde.
Lockdown ließ Sport dramatisch erlahmen
Wie dramatisch die Wirkungen dieser Schließungen und Einschränkungen sind, sehen wir an den kürzlich veröffentlichten Ergebnissen einer Studie des Universitätsklinikums Münster zum Bewegungsverhalten von Jugendlichen. Demnach war im ersten Lockdown im Frühling jeder vierte Jugendliche völlig ohne Bewegung im Alltag. Vor Corona war es jeder Zwanzigste. Dieser Anstieg geht einher mit steigender Bildschirmzeit und sinkender Zufriedenheit der Jugendlichen. Die Aufforderung, möglichst zu Hause zu bleiben, in Kombination mit der Aussetzung des Sportvereinslebens und des Angebots kommerzieller Sportanbieter, führt zu einer dramatischen Forcierung des Bewegungsmangels. Der Verweis auf die Option des eigenorganisierten Bewegens im Freien ist unzureichend. Unter Rekurrierung auf die zuvor erwähnten medizinischen Konsequenzen und der Umstand, dass viele dieser Folgeerkrankungen nun zur Klassifizierung von Risikogruppen einer Corona-Infektion führen, machen die Sportanbieter zu systemrelevanten Akteuren.
Einerseits sehen wir also immense gesundheitliche Folgen auf der Nutzer- beziehungsweise Nachfrageseite. Andererseits können wir wirtschaftliche und existenzielle Herausforderungen auf der Angebotsseite, also bei Sportvereinen und kommerziellen Sportanbietern, feststellen. Ein wesentlicher Faktor in der Leistungsbereitstellung von Sportvereinen ist die Freiwilligenarbeit, also das ehrenamtliche Engagement von Mitgliedern. Mit der Einstellung des Vereinsbetriebs geht natürlich das Risiko des Verlusts dieser wertvollen Ressource einher. Fehlen freiwillige Ressourcen, sind Angebote und unter Umständen ganze Sparten in den Vereinen gefährdet. Auch die Gefahr des Verlusts von Sponsoren steigt mit jedem Tag des Stillstands.
Zu Recht befürchtet der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) eine veränderte Vereinslandschaft nach der Rückkehr zur Normalität. Obwohl bei kommerziellen Fitnessanbietern – ähnlich wie in Vereinen – die Umsatzgenerierung primär über sogenannte Clubgüter, also Mitgliedschaften für einen bestimmten Zeitraum, generiert werden, und so Umsätze aufgrund von Kundensolidarität erhalten blieben, registrierten die Betreiber Umsatzrückgänge aufgrund fehlender Neukunden und ausgebliebener Verkäufe von Konsumprodukten, wie Getränken und Bekleidung. Insofern sind Fitnessstudios nicht so hart getroffen wie Gastronomen oder Eventveranstalter.
Die Pandemie hinterlässt in Sport und Bewegung nachhaltige gesundheitliche, wirtschaftliche und bürgerschaftliche Einflüsse. Insbesondere in Bezug auf die gesundheitlichen Effekte ist eine politische Offensive zur Förderung von Bewegung und eines aktiven Lebensstils längst überfällig. Solidarität in der Pandemie zeigt sich durch Rückzug und Abstand, in der Normalität durch einen gesundheitsorientierten Lebensstil, der das Entstehen von Risikofaktoren und Risikogruppen wirksam präventiert. Hier gilt es anzusetzen.
Professor Thomas Rieger ist der Dekan für den Fachbereich Sport, Medien und Event an der University of Europe for Applied Sciences (UE), sowie der Studiengangsleiter des Studiengangs Sport & Event Management & International Sport & Event Management.