Hermann Hesse könnte in diesem Jahr mit seinem bekannten Gedicht „Stufen“ ein wichtiger Mediator für die Digitalisierung in der Medizin sein. Liest man die Zeilen seines Textes, zeigt sich der Schmerz des Loslassens vom Gewohnten und gleichzeitig die Chance auf etwas Neues. Diese Ambivalenz erleben derzeit viele Akteure im Gesundheitswesen, die mit der fortschreitenden Digitalisierung in allen Bereichen der Versorgung sich von alten Prozessen, Technologien und Verhaltensweise trennen (müssen) und sich an neue Tools, Abläufe und Arbeitskultur gewöhnen (müssen). Die Veränderung ist dabei nicht immer freiwillig, denn in diesem Jahr greifen viele gesetzliche Fristen, die eine Basis für digitale Gesundheitsversorgung in Deutschland schaffen.
Anfang des Jahres kam der Startschuss zur Einführung der elektronischen Patientenakte (ePA). GKV-Versicherte haben seit dem 1. Januar 2021 einen Anspruch auf eine ePA, in der sie ihre Gesundheitsdaten verwalten und mit Ärzten teilen können. Viele Krankenkassen sind kurz vor dem Jahreswechsel fertig geworden und haben ihre ePA-Apps in den App Stores live geschaltet. Die Reaktionen fallen gemischt aus: Digitale Enthusiasten freuen sich darüber, dass es endlich los geht, während andere Versicherte von dem teils aufwendigen Authentifizierungsverfahren abgeschreckt sind.
ePA und eRezept holen Ärzte und Patienten aus der Komfortzone
Dennoch wird die ePA viele Prozesse und das Arzt-Patienten-Verhältnis beeinflussen – ein Changeprozess auf vielen Ebenen. Wenn erst die Anzahl der Patienten, die von ihren Ärzten erwarten, dass die Daten in der eigenen ePA in die Behandlung einfließen und die Akte immer weiter befüllt wird, einen gewissen Schwellenwert erreicht, wird man im Praxisalltag um die ePA nicht herumkommen. Aktuell aber kämpfen Gesundheits-IT-Anbieter und Ärzteschaft in den Arztpraxen noch darum, dass der Zugriff auf die ePA dann auch reibungslos funktioniert.
Sie müssen sich beeilen: Wenn zu Beginn des Jahres 2022 sukzessive mehr Funktionalitäten, wie zum Beispiel der elektronische Impfpass oder der elektronische Mutterpass, die ePA attraktiver machen und gleichzeitig mehr Akteure darauf zugreifen können, wie Kliniken und weitere Leistungserbringer, wird das Thema noch mehr an Geschwindigkeit zulegen.
Skurril wirkt vor diesem Hintergrund die empörte Haltung der Branche, als die gematik kürzlich ihr Whitepaper zur „Telematikinfrastruktur 2.0“ vorstellte. Hierbei wurden erste Ideen skizziert, welche Technologien in einigen Jahren die Basis für digitale Versorgung sein werden. Der Beißreflex kam prompt mit der Frage, warum dann Ärzte und Kliniken heute technische Komponenten einführen sollen, wenn diese doch in ein paar Jahren schon wieder ausgetauscht werden sollen. Diese Argumentation zeigt, dass das Verständnis für technischen Fortschritt fehlt.
Dabei können viele Menschen im privaten Umfeld damit umgehen: Wer heute ein Smartphone kauft, weiß, dass es in zwei bis drei Jahren neuere Modelle mit modernerer Technik geben wird – aber hält sie das davon ab, die Kaufentscheidung heute zu treffen? In der Regel wollen Menschen nicht auf Anschluss und Verbundenheit verzichten, in der Hoffnung, später dann ein vermeintlich besseres Produkt zu kaufen. Doch auch dieses wird dann bald wieder veraltet sein, solange es Menschen gibt, die danach streben, den Status quo weiterzuentwickeln – eben zu innovieren. An diesen Gedanken muss sich das Gesundheitswesen gerade gewöhnen, und die gematik hat gut daran getan, hier frühzeitiges Erwartungsmanagement zu betreiben.
Labortests für den Heimgebrauch
Während viele niedergelassene Ärzte sich in erster Linie an neue digitale Prozesse gewöhnen, entwickeln einige bereits heute gezielt auch telemedizinische Kompetenzen und Angebote, um Patienten orts- und zeitunabhängig zu behandeln. Diese Entwicklung wird auch durch aufkommende Plattformen forciert, die ihren Ursprung in der Telemedizin oder Online-Apotheke haben – etwa Docmorris oder Kry. Die Zusammenarbeit zwischen Telemedizinanbietern und Online-Apotheken ist dabei deutlich mehr als die digitale Version einer Arztpraxis in guter Nachbarschaft zur Apotheke. Diese Verbindung ist der Nukleus für den Aufbau vollständig virtueller Versorgungspfade. Zukünftig können immer mehr Krankheitsbilder rein virtuell behandelt werden. Ein wichtiger Baustein sind Selbsttest für den Heimgebrauch, wodurch Patienten Laborparameter in Eigenregie erfassen können – etwa Corona-Tests, aber vor der Pandemie gab es bereits derartige Tests, etwa in den Bereichen Schwangerschaft und sexuell übertragbarer Krankheiten.
Heute wächst eine „Generation Selbsttest“ heran, die es gewohnt sein wird, sich selbst auf eine Virusinfektion zu testen. Damit ist die Tür offen für weitere Tests, die dann unter telemedizinischer Begleitung der Einstieg in einen virtuellen Versorgungspfad darstellen. Onlineapotheken und Telemedizinanbieter werden damit Erfolge feiern, während der klassische Hausarzt und der Apotheker vor Ort wie der Frosch im immer wärmer werdenden Wasser sitzen und erst merken, dass sich ihre Patientenpopulation verschiebt, wenn es wirtschaftlich spürbar ist.
Für DiGA-Hersteller wird es ernst
Auch für Hersteller von Digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA) wird dieses Jahr zur Bewährungsprobe. Hat doch die Politik mit dem digitalen Versorgungsgesetz (DVG) bereits Ende 2019 den Grundstein für verschreibungsfähige digitale Anwendungen im Sinne einer „App-auf-Rezept“ gelegt, muss sich der Ansatz jetzt in der Praxis bewähren. Im Jahr 2020 stand die Entwicklung der entsprechenden Rahmenvereinbarung im Fokus der Entscheider. Gleichzeitig schritten die ersten mutigen Hersteller voran und meisterten den Zulassungsprozess beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM).
Derzeit ist erst eine Hand voll DiGAs dauerhaft im DiGA-Verzeichnis gelistet, während der Großteil vorläufig aufgenommen wurde. Erstere starten bald in ihre abschließende Preisverhandlung mit dem GKV Spitzenverband. Letzte müssen in diesem Jahr die notwendige Evidenz generieren, um ihr Produkt langfristig in dem Markt positionieren zu können. In jedem Fall schlägt für DiGAs in diesem Jahr die Stunde der Wahrheit, was sowohl von Krankenkassen als auch von Pharmaunternehmen aufmerksam verfolgt wird. Wo die Kostenträger eine Kostenexplosion befürchten, fragt sich die Industrie noch, wie groß der DiGA Markt wohl werden wird.
Was gibt uns Hermann Hesse mit auf den Weg?
An allen Stellen des Gesundheitswesens sind gerade im Hinblick auf die Digitalisierung viele Steine ins Rollen gekommen – es brummt im Maschinenraum. Das erfordert von jedem Einzelnen Engagement und Durchhaltevermögen. Dabei werden wir uns alle von der Vergangenheit und dem Status quo verabschieden. Und dafür findet Hesse in seinem Gedicht ebenfalls die richtigen Worte: Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!
Laura Wamprecht ist Geschäftsführerin der Flying Health GmbH mit Sitz in Berlin. Das Innovationsnetzwerk begleitet Unternehmen auf dem Weg ins Gesundheitswesen 2.0.