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Standpunkte Wann Personaluntergrenzen Sinn machen

Andreas S. Lübbe ist Palliativmediziner und Ärztlicher Direktor eines Medizinischen Zentrums
Andreas S. Lübbe ist Palliativmediziner und Ärztlicher Direktor eines Medizinischen Zentrums Foto: Medizinisches Zentrum Bad Lippspringe

Personaluntergrenzen erfüllen ihren intendierten Effekt nicht, solange überflüssige stationäre Kapazitäten nicht abgebaut und auf ein international übliches Maß zurückgefahren werden, meint der Palliativmediziner Andreas S. Lübbe im Standpunkt. Deutschland würde über ausreichend Pflegekräfte verfügen, wenn weniger Patientenbetten zur Verfügung stünden.

von Andreas S. Lübbe

veröffentlicht am 27.05.2020

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Die Coronakrise zeigt, welche großen medizinischen Aufgaben in diesem Land ungelöst sind, weil sie jeden Einzelnen und alle zusammen gefährden. Hier zwei Beispiele: Haben wir nun zu wenig oder zu viele Krankenhausbetten? Und: Helfen gesetzliche Mindestvorgaben dem Pflegenotstand zu begegnen?

Mit Beginn der Pandemie, als man noch viel höhere Intensivkapazitäten schaffen wollte, sind in Deutschland als erstes die gesetzlichen Vorgaben zur Einführung von Personaluntergrenzen ausgehebelt worden. Es mangelte ja ohnehin an genügend qualifiziertem Personal. Und wie behalf man sich, als die ohnehin üppigen Intensivkapazitäten noch einmal um 50 Prozent ausgeweitet werden sollten? Man lernte kurzerhand Arzthelferinnen und fachfremdes Pflegepersonal wie teilweise Büroangestellte und Therapeuten an und kommandierte sie auf Intensivstationen ab. Mit anderen Worten: Die Qualität der Versorgung auf den Intensivstationen hat vorher schon kaum eine Rolle gespielt. Jetzt spielte sie gar keine Rolle mehr. Hauptsache, irgendwer arbeitet dort.

Die Situation ist also sehr viel komplexer, als dass man nur sagen könnte, wir haben zu wenig oder zu viel Krankenhausbetten, und sie ist allemal schwieriger, als dass man mit der Einführung von Personaluntergrenzen einen relativen Pflegekraftmangel beheben könnte. Der in Deutschland grassierende Pflegenotstand ist Folge eines über Jahrzehnte auf Wettbewerb ausgerichteten Gesundheitswesens, in dem Kosten gesenkt und Fallzahlen erhöht werden müssen, um Renditen für Anteilseigner zu erwirtschaften oder angesichts des hohen Konkurrenzdrucks wirtschaftlich überleben zu können. So sind in dieser Zeit 100.000 Stellen für Pflegekräfte abgebaut worden, wohingegen die Leistungsdichte (die Anzahl der Patienten sowie die Menge an Prozeduren) gestiegen ist. Aus diesem Grund ist es zu einem relativen Pflegepersonalmangel gekommen. Vergleichen wir uns allerdings international, verfügen wir über mehr Pflegepersonal je 1.000 Einwohner als jedes andere EU-Land. Betrachten wir jetzt, wie viel Pflegekräfte pro Patient eingesetzt werden, liegen wir wieder ganz unten in der Rangliste. Deutschland würde also über ausreichend Pflegekräfte verfügen, wenn weniger Patientenbetten zur Verfügung stünden. Patienten in diesen Betten könnten fraglos qualitativ besser versorgt werden.

Krankenhausschließungen als einzige Lösung?

Warum gibt es den relativen Pflegenotstand in dieser Form nur in Deutschland? Warum benötigen die 18 Millionen Bürger in NRW dreimal so viele Krankenhäuser wie die 17 Millionen Niederländer? Die Menschen in den Niederlanden leben jedenfalls länger als wir Deutschen. Dort werden Leistungen, die im Gesundheitswesen erbracht werden, priorisiert. Hier landen einfach viel zu viele Patienten in den falschen Einrichtungen – Häusern, in denen wenige Fälle behandelt werden und in denen die Behandlungsqualität deutlich schlechter ist als im Durchschnitt. So werden exzellente Therapieerfolge in guten Einrichtungen durch Todesfälle in anderen verwischt. Das erklärt zumindest teilweise die niedrigste Lebenserwartung der Deutschen unter allen Westeuropäern.

Schon vor der Coronakrise beklagte jedes zweite Krankenhaus Stellenbesetzungsprobleme im Pflegebereich und bei Ärzten. Die einzige Lösung kann für die Zeit danach nur darin bestehen, vorhandene und überflüssige stationäre Kapazitäten abzubauen und auf ein international übliches Maß zurückzufahren. Dann würde das vorhandene Personal dort eingesetzt, wo es tatsächlich dringend benötigt wird. Solange das nicht geschieht, wird man an vielen anderen Stellen herumdoktern. Personaluntergrenzen im Pflegebereich einzuführen, ist somit eine verzichtbare Stellschraube.

Eine Maßnahme, dem Pflegenotstand bis zur Corona-Ära entgegenzuwirken, war die Einführung von Personaluntergrenzen in zunächst vier kritischen Bereichen. Sie sah vor, eine Mindestbetreuung durch Pflegepersonal in bestimmten Bereichen (Intensivstationen, kardiologische, geriatrische und unfallchirurgische Abteilungen) rechtlich vorzuschreiben, die nicht unterschritten werden durfte. Ziel war es, mehr Personal einzustellen, weil in vielen Krankenhäusern angeblich Mindestmengen an Personal nicht zur Verfügung standen. Doch wie verbessert man einen Personalschlüssel (Pflegekräfte pro Patient) ohne mehr Personal zur Verfügung zu haben? Und was hat das für Folgen?

Drohender Personalabbau durch Untergrenzen

Die erste Frage dabei: Wie berechnet man eigentlich Mindeststandards und Personaluntergrenzen? Der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen und die Deutsche Krankenhausgesellschaft wollten zunächst die am schlechtesten ausgestatteten Fachabteilungen auf das Niveau des unteren Dezils (10 Prozent) oder maximal des Quartils (25 Prozent) anheben, unabhängig vom tatsächlichen Pflegebedarf. Die Pflegeverbände hatten diesen Ansatz scharf kritisiert und darauf verwiesen, dass Krankenhäuser, die bereits jetzt mehr Pflegepersonal vorhalten, etwa Universitätskliniken, eine solche Vereinbarung zum Anlass nehmen könnten, um qualifiziertes Pflegepersonal abzubauen – mit entsprechend katastrophalen Auswirkungen auf die Pflegenden und Patienten. Bei Personaluntergrenzen handelt es sich ja schließlich um eine rote Linie, die nicht unterschritten werden darf. Sie decken nicht den tatsächlichen Pflegebedarf.

Der zweite Vorbehalt lautet, starre Personalvorgaben seien weder praktikabel noch sinnvoll, weil sie den tatsächlichen Pflegebedarf in der jeweiligen Schicht und am jeweiligen Tag nicht berücksichtigen und auch nicht die durchaus verschiedenen baulichen Gegebenheiten (lange Wege, kurze Wege) der jeweiligen Einrichtung.

Das dritte und eigentlich besonders relevante Problem ist, dass Personaluntergrenzen in den angesprochenen vier Bereichen zu einem Stellenabbau in anderen Abteilungen führen werden, wenn nicht insgesamt deutlich mehr Pflegekräfte ins System kommen. Mit anderen Worten: Mit der Einführung von Personaluntergrenzen wird sich die Patientenversorgung in einigen Bereichen verbessern, in anderen jedoch verschlechtern. Pflegeheime oder Abteilungen, in denen es gar keine Personaluntergrenzen gibt, sind die Leidtragenden.

Pflegeheime und Reha-Kliniken bleiben die Verlierer

Daraus ergibt sich eine vierte Frage: Mit welcher Berechtigung werden Personaluntergrenzen eigentlich für Intensivstationen eingeführt und nicht etwa für Palliativstationen? Bestätigt sich hier wieder die alte Erkenntnis, dass die unbedingte Lebenserhaltung, manchmal auf fragwürdige Art und Weise, wichtiger und förderungswürdiger ist, als die gegenwärtig vollkommen unterfinanzierte stationäre palliativmedizinische Versorgung, bei der es „lediglich“ um die würdevolle Pflege von Menschen an ihrem Lebensende geht?

Personaluntergrenzen machen nur dann Sinn, wenn sie sich auf alle bettenführenden Abteilungen beziehen, wenn Sonn- und Feiertage gleich behandelt werden und vor allen Dingen, wenn sie zeitgleich mit deutlich mehr ins System hinein kommenden Pflegekräften verknüpft werden. Kommen nicht deutlich mehr Pflegekräfte ins System, wird es bei einer Unterversorgung bleiben und lediglich zu einer Verschiebung kommen. Pflegeheime und die etwa 1.000 Rehabilitations-Kliniken in Deutschland sind die Verlierer.

Um sich als Pflegekraft auf einen fremden Menschen einzulassen und ihm mit Sorge und Taktgefühl, Geduld und Aufmerksamkeit zu begegnen und seine Ansprüche bei intimsten Begegnungen zu erfassen, bedarf es Zeit für den unmittelbaren Patientenkontakt. Mögen also diejenigen, die Bewertungsrelationen und Kataloge zur Risikoadjustierung erstellen, diese Gedanken zu allererst im Kopf haben. Und schließlich: Ja, wir können die Corona-Krise als Chance begreifen, auch im deutschen Gesundheitswesen vernünftige Lösungen für die Zukunft zu erarbeiten. Ein Konzept mit weniger Krankenhausbetten, aber ausreichend Personal und guter Qualität, wie es uns die Kollegen in Dänemark und Holland vormachen, ein Konzept mit Krankenhausersatzbetten in gut ausgestatteten und designierten Reha-Kliniken für Patienten, die im Falle der nächsten Pandemie nicht stationär behandelt werden müssen und mit ausreichenden Intensivkapazitäten für diejenigen, die sie auch wirklich benötigen.

Andreas S. Lübbe ist Palliativmediziner und Ärztlicher Direktor des Medizinischen Zentrums Bad Lippspringe.

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