Gesundheit-E-Health icon

Gesundheit & E-Health

Standpunkte Warum die Prävention von Infektionen jetzt entscheidend ist

Judith Stahlhut ist Geschäftsführerin der URGO GmbH in Deutschland
Judith Stahlhut ist Geschäftsführerin der URGO GmbH in Deutschland Foto: fotog/URGO

Die Koalition hatte geplant, die Anfang Dezember auslaufende Übergangsfrist für die weitere GKV-Erstattung bestimmter Verbandmittel zu verlängern – nach dem Bruch der Koalition wird es dazu vermutlich nicht mehr kommen, befürchtet Judith Stahlhut, Geschäftsführerin der URGO GmbH. Wie eine Versorgungslücke jetzt vermieden werden kann und welche Rahmenbedingungen für eine Nutzenbewertung nötig sind, schreibt sie im Standpunkt.

von Judith Stahlhut

veröffentlicht am 28.11.2024

Lernen Sie den Tagesspiegel Background kennen

Sie lesen einen kostenfreien Artikel vom Tagesspiegel Background. Testen Sie jetzt unser werktägliches Entscheider-Briefing und erhalten Sie exklusive und aktuelle Hintergrundinformationen für 30 Tage kostenfrei.

Jetzt kostenfrei testen
Sie sind bereits Background-Kunde? Hier einloggen

Mit dem Alter steigt das Risiko für chronische und schwerheilende Wunden. Die Zunahme von Erkrankungen wie Durchblutungsstörungen, Diabetes oder Adipositas erhöht den entsprechenden Versorgungsbedarf. Moderne Wundauflagen, die etwa Infektionen vermeiden oder die Abheilung beschleunigen, können dabei einen wichtigen Unterschied machen. Wir begrüßen es deshalb ausdrücklich, dass der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) mit einer wissenschaftlichen Ausarbeitung zu klinischen Studien im Therapiegebiet „Wundbehandlung“ beauftragt hat. Mit den Ergebnissen ist allerdings frühestens im März 2025 zu rechnen. Ohne die geplante gesetzliche Fristverlängerung ist das zu spät für die weitere Erstattung spezieller Wundprodukte über den 2. Dezember 2024 hinaus.

Das stellt alle Akteure in der Wundversorgung vor große Herausforderungen. Ärzt:innen werden in ihrer Praxissoftware Anfang Dezember nicht erkennen können, welche Wundauflagen betroffen sind. Erst wenn die Patient:innen in der Apotheke das Rezept einlösen, werden sie die Rückmeldung bekommen, dass einige Wundauflagen nicht mehr erstattet werden. Das wird für erhebliche Verwirrung sorgen.

Jetzt ist entscheidend, dass Ärzt:innen und Pflegefachpersonen frühzeitig über Therapiealternativen informiert sind. Bei infizierten Wunden bestünde die Möglichkeit, eine in der Erstattung verbleibende Wundauflage mit einem Antiseptikum zu kombinieren. Allerdings ist zu betonen, dass auch Antiseptika in vielen Fällen eine Selbstzahlerleistung sind, die zusätzlich zur ohnehin schon hohen Belastung von häufig multimorbiden und pflegebedürftigen Patient:innen hinzukäme.

Für die Zukunft ist daher die Infektionsprävention maßgeblich. Die entsprechende S3-Leitlinie zur Lokaltherapie schwerheilender und/oder chronischer Wunden hebt insbesondere die zentrale Rolle der Wundreinigung hervor. Die Begrenzung der Gesamtkeimzahl mithilfe einer gründlichen Wundsäuberung ist unerlässlich, um das Auftreten einer Infektion und die damit verbundenen Komplikationen und höhere Morbidität der Patient:innen zu verhindern. Um in dieser akuten Situation echte Anreize für zukünftige Innovationen im Bereich der ambulanten Therapie chronischer und schwerheilender Wunden zu setzen, müssen dringend weitere Aspekte Berücksichtigung finden.

Rechtssichere Eingruppierung nötig

Unter medizinischen Fachexpert:innen wird diskutiert, ab welchem Zeitpunkt eine Wundauflage nur „auf der Wunde“ wirkt und wann die Schwelle zur Wirkung „im Körper“ überschritten ist. Da ein Austausch von Flüssigkeit zwischen Wundauflage und Wunde ständig stattfindet, ist diese eher künstliche Abgrenzung des Gesetzes einerseits sehr unscharf, andererseits aber entscheidend für die Frage der Erstattung. Wirkt es „im Körper“, wird das betroffene Verbandmittel in Teil 3 der Anlage Va der Arzneimittel-Richtlinie (AM-RL) eingruppiert. Dann ist ein bisher sehr aufwendig zu erstellender positiver Nachweis des therapeutischen Nutzens für die weitere Erstattungsfähigkeit zu Lasten der GKV erforderlich. Gruppiert der Hersteller sein Verbandmittel dagegen „nach bestem Wissen und Gewissen“ in Teil 2 – also bei jenen Verbandmitteln „ohne pharmakologische, immunologische oder metabolische Wirkweise im menschlichen Körper“ – ein, ist kein Nutzennachweis erforderlich.

Hersteller haben jedoch keine Möglichkeit, vorab durchaus komplexe Fragen zur Abgrenzung vom G-BA klären zu lassen. Schlimmer noch: Umgekehrt kann der G-BA auch Jahre später noch ein Stellungnahmeverfahren eröffnen und die Position des Herstellers anzweifeln. Dabei ist auch nicht ausgeschlossen, dass Wettbewerber dem G-BA entsprechende Hinweise dazu geben. Eine solche nachträgliche Änderung kann bedeuten, dass Patient:innen ihre Wundauflagen aus eigener Tasche zahlen müssen oder diese nicht mehr erhalten, weil die Erstattung durch die GKV wegfällt. Denn selbst wenn der betroffene Hersteller sofort reagiert, vergehen mehrere Jahre bis die Ergebnisse neuer Studien und der Nutzenbewertung vorliegen. Daher ist es erforderlich, durch eine rechtssichere Eingruppierung mehr Planungssicherheit für die Versorgung zu schaffen.

Evidenzanforderungen müssen Komplexität berücksichtigen

Aktuell wird für eine Nutzenbewertung betroffener Verbandmittel für jede einzelne Wundentität und beinahe jede einzelne Produktausprägung eine separate Antragstellung basierend auf randomisierten kontrollierten Studien (RCT) gefordert. Betrachten wir nur die vier großen chronischen Wundentitäten, wären wir bei einer zweistelligen Anzahl an RCT-Studien. Gleichzeitig ist aber ausschließlich die Wirkkomponente in der Wundauflage Auslöser für den geforderten Nutzennachweis. Erschwerend kommt hinzu, dass die Wundheilung auch maßgeblich von der Kausal- und Begleittherapie sowie dem Heilungsverlauf der häufig multimorbiden Patient:innen bestimmt wird. Ein Lösungsansatz wäre, sich auf vergleichbare oder die häufigsten chronischen Wundentitäten zu einigen und nur die maßgebliche Wirkkomponente der Wundauflage zu bewerten.

Ein weiterer Diskussionspunkt ist, welche Endpunkte für Studien akzeptiert werden. Der G-BA erkennt bislang nur den kardinalen Endpunkt „Wundverschluss“ an. In einer phasengerechten Wundversorgung gibt es jedoch, wie eingangs beschrieben, auch Wundauflagen, die, z. B. bei lokalen Infektionszeichen, nur zeitlich begrenzt angewendet werden. Anwendbare Surrogat Parameter bzw. weitere Endpunkte wie die Wundflächenreduktion wurden mehrfach von Expert:innen vorgeschlagen, aber noch nicht berücksichtigt. Gerade in der chronischen Wundversorgung muss die Patient:innen-Perspektive einbezogen werden.

80 Prozent der Patient:innen mit einem offenen Bein erfahren starke bis sehr starke Einbußen in der Lebensqualität. Das hängt mit den Schmerzen, einer verzögerten Wundheilung z. B. durch eine Infektion, der Immobilität oder einem unangenehmen Geruch der Wunde zusammen. Welchen Stellenwert die gesundheitsbezogene Lebensqualität in der Nutzenbewertung hat, ist bislang noch unklar. Unser Vorschlag ist, die Gesamtheit der verfügbaren Evidenz aus der Versorgungsforschung zu berücksichtigen. Hier erhoffen wir uns vom IQWiG eine richtungsweisende Empfehlung.

Globaler Wettbewerb

Letztlich ist noch einmal zu betonen, dass innovative Verbandmittel künftig nicht mehr erstattet werden, sobald sie als „Sonstige Produkte zur Wundbehandlung“ eingestuft werden, unabhängig davon, ob Studien eingeleitet wurden oder nicht. Anders als z. B. bei Arzneimitteln, bei denen die Nutzenbewertung regelmäßig nur Einfluss auf den Preis hat, geht es bei Verbandmitteln darum, ob sie überhaupt noch (oder mit einer Aufnahme in die Anlage V der AM-RL) wieder erstattet werden. Patient:innen mit chronischen und schwerheilenden Wunden werden häufig ambulant, stationär oder in spezialisierten Einrichtungen behandelt. Ein Wegfall der Erstattungsfähigkeit wirksamer Wundverbände durch die GKV hat auch zur Folge, dass die Kontinuität der Therapie besonders bei langwierigen, komplexen Heilungsverläufen gefährdet ist.

Und schließlich: Jede Investitionsentscheidung einer global forschenden Unternehmensgruppe muss sorgfältig abgewogen werden. Eine RCT-Studie mit einer Dauer von fünf Jahren und über drei Millionen Euro Investment für eine Wundauflage – ohne klare und umsetzbare Kriterien für die Nutzenbewertung, die in dieser Form aktuell nur für den deutschen Markt gefordert werden – ist Wunschdenken. Die Politik darf die Fehler, die im Arzneimittelbereich gemacht wurden, nicht wiederholen. Innovative Wundauflagen machen einen Unterschied bei der Wundversorgung. Deshalb braucht es verlässliche Rahmenbedingungen – so schnell wie irgend möglich.

Judith Stahlhut ist Geschäftsführerin der URGO GmbH in Deutschland.

Lernen Sie den Tagesspiegel Background kennen

Sie lesen einen kostenfreien Artikel vom Tagesspiegel Background. Testen Sie jetzt unser werktägliches Entscheider-Briefing und erhalten Sie exklusive und aktuelle Hintergrundinformationen für 30 Tage kostenfrei.

Jetzt kostenfrei testen
Sie sind bereits Background-Kunde? Hier einloggen