Wir befinden uns im Gesundheitswesen aktuell in einer Umbruchphase – einer Phase des (digitalen) Wandels. Durch die neuen gesetzlichen Rahmenbedingungen wie das Krankenhauszukunftsgesetz oder das Digitale-Versorgung-Gesetz wurde eine Grundlage für Innovationen im Gesundheitswesen geschaffen. Auch im Alltag machen sich diese Innovationen mittlerweile bemerkbar. So dokumentieren in manchen Einrichtungen Pflegekräfte bereits mit Smartphones, Ärzt:innen operieren über große Distanzen via Telemedizin und Robotik und Versicherte nutzen verschreibungspflichtige Apps als Behandlungsergänzung.
Was sich im ersten Moment bereits fortschrittlich anhört, bedeutet in der Realität aber heutzutage noch an manchen Stellen Frust. Die Gesundheitsbranche muss noch einiges lernen und kann dabei sicherlich von den Erfahrungen andere Branchen profitieren.
Vor diesem Hintergrund wurde kürzlich eine virtuelle Expertenrunde im Rahmen einer Veranstaltung des Digital Health Hub Greifswald durchgeführt. Toralf Schnell, CDO der Universitätsmedizin Greifswald, und ehemals in der Versicherungsbranche sowie im E-Commerce tätigt, diskutierte mit Phillipp Kurtz, Gründer und Geschäftsführer der Famedly GmbH und Teilhaber am Kurtz Ersa-Konzern (Maschinenbau) über die Erfahrungen, die von anderen Branchen auf das Gesundheitswesen übertragen werden können.
Digitalisierung fängt beim Menschen an
Andere Branchen haben verstanden, dass sie sowohl Kund:innen als auch Mitarbeitende abholen müssen. Bestehende Prozesse müssen gemeinsam zwischen Führungsebene und Mitarbeitenden aufgearbeitet werden. Die Einführung neuer Lösungen sollte einhergehen mit einem gemeinsam erarbeiteten Wandel in den Strukturen und Prozessen. Dabei ist wichtig, dass Führungskräfte als „digital Leader“ auftreten und sich möglichst vorbildlich verhalten.
Außerdem sollten Inhalte der Qualifizierung für neue Technologien in Aus- und Weiterbildungsangeboten aller Gesundheitsberufe verankert werden, um die Menschen auf den bevorstehenden Wandel bestmöglich vorzubereiten. Digitalisierung sollte dabei möglichst ganzheitlich betrachtet werden. Das bedeutet aus allen Perspektiven der involvierten Stakeholder.
Kundinnen und Kunden heißen im Gesundheitswesen anders. Das Äquivalent dazu sind die Patientinnen und Patienten und für die sollten neue Technologien in erster Linie das Leben erleichtern, einen vereinfachten Zugang zur Gesundheitsversorgung schaffen, entlasten und die Versorgungsqualität verbessern. Viele Prozesse im Gesundheitswesen könnten so einfach sein wie der Abschluss einer Online-Versicherung – sind sie aber aktuell nicht.
Um an diesen Punkt zu gelangen, müssen Patient:innen gedanklich möglichst frühzeitig abgeholt werden. Aus anderen Branchen können wir dafür geeignete Kommunikationsstrategie übernehmen, die neben klassischen Printmedien auch Social Media und andere neue Formate zur Kommunikation nutzen. Die viel zitierte Patient-Journey beginnt dadurch, dass man bestmöglich informiert ist; dann im besten Fall, bevor man erkrankt – auch wenn sich das erst mal widersprüchlich anhört.
Beim Thema Digitalisierung haben andere Branchen außerdem vorgemacht, dass kleine, konstante Entwicklungsschritte zum Erfolg führen. Wir benötigen also eine strategische Vorgehensweise der Schrittinnovation für das Gesundheitswesen, die uns hilft, einen Schritt nach dem anderen zu gehen, ohne dabei zu stolpern.
Offenheit – Mut und Lernbereitschaft beim Thema Technologien
Andere Branchen besitzen oft einen ausgeprägteren Mut und Offenheit zum Ausprobieren. Im Gesundheitswesen sind wir durch ein starres Regulierungskorsett leider häufig beschränkt neue Wege auszuprobieren. Dies dient dem Schutz der Patient:innen und hat daher auch seine Daseinsberechtigung. Jedoch können wir von anderen Branchen lernen, mehr auf die Chancen der Digitalisierung zu schauen und uns weniger von den Risiken abhalten zu lassen.
Viele Berufsbilder werden sich verändern und mit der geeigneten Qualifizierungsstrategie könnten wir ein besseres Verständnis für neue Technologien und damit auch mehr Offenheit erzeugen. Jedoch dürfen wir bei der Qualifizierung Softskills wie digital Leadership oder ein Verständnis für das „Digitale Mindset“ nicht vergessen. Erst durch die Kombination von Wissen und Begeisterung können wir eine bessere Akzeptanz für digitale Technologien schaffen. Jedoch werden sich wie in anderen Branchen auch nur die Technologien durchsetzen, die auch wirklich einen Mehrwert bringen.
Wir müssen dafür im Gesundheitswesen das Rad nicht neu erfinden. Viele technologische Innovationen aus anderen Branchen lassen sich auf das Gesundheitswesen übertragen. Im Bankwesen oder in der Telekommunikation gehören einige Technologien heute bereits zum Standard wie die digitale Signatur oder das Video-Ident Verfahren. Technologisch lassen sich diese Verfahren relativ einfach auf das Gesundheitswesen übertragen. Jedoch müssen die Hersteller auf die Spezialitäten der Gesundheitsbranche achten und können nicht erwarten, dass immer alles eins zu eins gleich funktioniert.
In anderen Branchen wird außerdem oft ein internationaler Vergleich herangezogen, um innovative Verfahren kennenzulernen und davon zu profitieren. Bei medizinischen Behandlungsverfahren richten wir bereits den Blick auf andere Länder. Es stellt sich die Frage, warum wir diesen Blick bei Prozessinnovationen oder der Einführung von neuen Technologien bisher noch nicht so ausgeprägt gewagt haben. International gesehen ist Deutschland im Bereich der Digitalisierung des Gesundheitswesens eher ein Schlusslicht. Daran sollten wir im Sinne des Patient:innenwohl schleunigst etwas ändern.
Tobias Krick ist Mitgründer und Geschäftsführer der Healthcare Innovations Network UG.