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Standpunkte Zeitenwende zu einer sektorenübergreifenden Versorgung

Eckhard Nagel ist Vorstandsvorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Integrierte Versorgung
Eckhard Nagel ist Vorstandsvorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Integrierte Versorgung

Ambulant oder stationär – diese Unterscheidung scheint klar und sinnvoll. Doch diese Versorgungs- und Vergütungsgrenzen sind nicht mehr zeitgemäß, schreibt Eckhard Nagel, Professor für Medizinmanagement und Gesundheitswissenschaften sowie Vorstandsvorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Integrierte Versorgung, in seinem Standpunkt. Denn die Trennung kommt aus einer Zeit, als Versorgung noch ganz anders aussah. Nagel fordert daher ein radikales Einreißen der Versorgungsmauern.

von Eckhard Nagel

veröffentlicht am 29.11.2024

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Das deutsche Gesundheitssystem steht vor einer Zerreißprobe. Der demografische Wandel, Fachkräftemangel und veränderte gesellschaftliche Strukturen belasten eine Gesundheitsversorgung, die schon lange an den Grenzen ihrer Kapazität und ihrer Funktionalität arbeitet. Die Deutsche Gesellschaft für Integriere Versorgung im Gesundheitswesen e.V. (DGIV) mahnt daher zu einer grundlegenden Reform. Nur durch ein radikales Umdenken können die Herausforderungen gemeistert und eine moderne, patientenorientierte Versorgung etabliert werden.

Wichtigste Punkte unserer Analyse sind in diesem Zusammenhang: die Notwendigkeit einer sektorenübergreifenden Versorgung, die Überwindung historisch gewachsener Strukturen, die Bedeutung regionaler Freiheit sowie die akute Fragilität des Systems, bedingt vor allem durch den wachsenden Fachkräftemangel.

Sektorenübergreifende Versorgung: Ein notwendiger Systemwandel

Unsere Hauptkritik liegt dabei auf der Tatsache, dass das deutsche Gesundheitssystem auch nach mehr als 20 Jahren Integrierter Versorgung nach wie vor in isolierten Sektoren denkt und handelt: ambulanter Bereich, stationäre Behandlung und Pflege arbeiten getrennt voneinander. Diese Trennung spiegelt sich nicht nur in der häufig dysfunktionalen Organisation der Versorgung wider, sondern bestimmt tief und grundlegend die gesetzlichen Rahmenbedingungen und die Systemfinanzierung. Obwohl seit Jahren über eine bessere Vernetzung gesprochen wird, fehlen konkrete und vor allem nachhaltige Maßnahmen, um diese umzusetzen.

Wir brauchen also ein gemeinschaftliches Herangehen, denn die verschiedenen Ebenen und Akteure der Gesundheitsversorgung können nur dann erfolgreich zusammenarbeiten, wenn der Gesetzgeber dafür die richtigen Voraussetzungen schafft – und zwar nicht als eine nicht endende Kette von Ausnahmeregelungen, sondern durch eine grundlegende Neuorganisation der Systemstrukturen. Momentan ist dies jedoch nicht der Fall. Statt die Kooperation der Sektoren aktiv zu fördern, bleibt es den Akteuren selbst überlassen, Wege zu finden, die gesetzlichen und finanziellen Barrieren zu überwinden.

Ein Beispiel für diesen Reformbedarf ist der sogenannte hybride Versorgungsbereich – etwa integrierte Versorgungs- und Notfallzentren, die ambulante und stationäre Versorgung kombinieren. Obwohl solche Ansätze vielversprechend sind, scheitern sie in der Praxis häufig an der fehlenden Anpassung der Gesetzgebung und an einer temporär begrenzten Sonderfinanzierung. Enttäuschend ist dabei, dass auch die jüngsten Reformideen, deren Umsetzung durch die anstehenden Neuwahlen inzwischen ausgeschlossen werden kann, diese Probleme nicht ausreichend in Angriff nehmen. Der Entwurf des Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetzes (GVSG) hat jedenfalls in der wachsenden Mutlosigkeit seiner verschiedenen Fassungen deutlich aufgezeigt, dass die Politik zunehmend die Entschlossenheit verlässt, je näher die konkrete politische Entscheidung rückt.

Historisch gewachsene Barrieren

Die Trennung der Sektoren hat ihren Ursprung in der Historie der Sozialgesetzgebung, deren Fokus zunächst aus gutem Grund in der Akutversorgung lag. Es gab schlicht noch keinen nennenswerten Bedarf für eine umfassende Chroniker-Versorgung, die im Grunde erst mit Erfindung des Insulins im Jahre 1921 systematisch hätte ausgebaut werden müssen. Diesen immer unzureichender werdenden Weg der Sektorentrennung haben wir konsequent weiterverfolgt, bis hin zu einem eigenen Sozialgesetzbuch für die Pflege im Jahr 1995. Doch was vor Jahrzehnten noch einigermaßen gut funktionierte, hat heute zu einer Fragmentierung geführt, die nicht mehr zeitgemäß ist.

Mittlerweile resultieren aus dieser Trennung manifestierte Gräben ohne Brücken – zum Schaden der Patientinnen und Patienten und ihrer vielzitierten Patient Journey. Und die historisch gewachsenen gesetzlichen Rahmenbedingungen haben diese Gräben so tief werden lassen, dass sie nicht mehr zu überwinden sind – weder für die Patientinnen und Patienten, vor allem aber auch nicht für die Akteurinnen und Akteure, die trotz dieser sektoralen Limitationen patientenorientiert arbeiten und versorgen müssen. Auch gut gemeinte und mit viel Engagement aufgebaute Brückenbauversuche führten oft ins Leere, da sie in der Regel ohne tragfähige politisch-strukturelle Netze implementiert und umgesetzt werden.

Aus diesem Grund hat die DGIV zusammen mit Thomas Schlegel ein Gutachten erarbeitet, das weitgehend lückenlos aufzeigt, wie die Versorgungssektoren von den verschieden Sozialgesetzbüchern selbst, aber auch innerhalb der Sozialgesetzbücher (beispielsweise dem SGB V), getrennt werden. Denn wenn die Sektorengrenzen überwunden werden sollen, dann müssen wir wegkommen von der Flut von Einzelparagrafen. Wir brauchen eine Reform der grundlegenden Gesetzgebung zur gesetzlichen Krankenversicherung. Deshalb ist dieses Gutachten so wichtig. Dieses Gutachten haben wir beim DGIV-Kongress am 28. November 2024 vorgestellt, und es wird der DGIV als „Roadmap“ und als politischer Forderungskatalog für die nächste Legislaturperiode dienen.

Regionale Unterschiede: Die Freiheit vor Ort nutzen

Darüber hinaus müssen wir aber auch über die Bedeutung regionaler Lösungen vor Ort sprechen. Lange Zeit sind wir davon ausgegangen, dass es in Deutschland keine problematischen ländlichen Versorgungsgebiete gibt – verglichen beispielsweise mit Flächenländern wie den USA oder Kanada. Doch diese Annahme ist falsch. Vielmehr ist inzwischen in ländlichen Gebieten der Zugang zur Gesundheitsversorgung oft deutlich schlechter und Menschen sterben dort früher – ein Umstand, den wir nicht hinnehmen können! Diese Unterschiede können wir nicht einfach als epidemiologische Tatsache abtun, sondern sie treffen unseren Versorgungsanspruch und das Leistungsversprechen unseres Gesundheitssystems ins Mark, wenn es um gleiche Lebensverhältnisse in ganz Deutschland geht. Um aber diese gleichen oder zumindest vergleichbaren Lebensverhältnisse zu schaffen, müssen wir die Versorgung stärker an die regionalen Bedürfnisse anpassen.

In diesem Zusammenhang fordert die DGIV deshalb mehr Entscheidungs- und Gestaltungsfreiheiten für die Regionen. Nur so können lokale Akteure und Netzwerke innovative Ansätze entwickeln, die den spezifischen Anforderungen und Gegebenheiten vor Ort gerecht werden. Wir sind der festen Überzeugung, dass es gerade in diesem Transformationsprozess wesentlich ist, die Region als Versorgungsebene mit deutlich wachsender Gestaltungsautonomie zu befähigen, um selbst Antworten auf ihre spezifischen Versorgungsherausforderungen zu finden und auch umzusetzen. Wir denken hier etwa an eine Liberalisierungen bei der Zulassung neuer Versorger aber auch an den Einsatz bestimmter Digitalisierungsmaßnahmen in der Gesundheitsversorgung, die in den Metropolen ganz andere Anforderungen haben als im ländlichen Raum. Nur auf diese Weise können wir auch dem Umstand Rechnung tragen, dass der ländliche Raum in der Oberpfalz ganz anders „funktioniert“ als in Brandenburg oder in der Lausitz.

Eine fragile Ausgangssituation

Schließlich wird die Situation auch dadurch nicht einfacher, dass die aktuelle Lage des deutschen Gesundheitssystems durch einen jahrzehntelangen Reformstau inzwischen außerordentlich fragil geworden ist. Viele Kliniken stehen am finanziellen Abgrund und müssen sich von ihren Trägern und Wirtschaftsprüfern regelmäßig bescheinigen lassen, dass sie nicht der Insolvenzverschleppung schuldig werden. Diese Situation spiegelt die Gesamtlage wider: Die Unsicherheiten sind auf allen Ebenen spürbar – von der Arztpraxis vor Ort über die regionale Klinikleitung bis hin zur Bundespolitik.

Die aktuelle Situation macht es daher schwierig und einfach zugleich, Ziele für die nächste Legislaturperiode zu formulieren: Klar ist, dass das deutsche Gesundheitssystem eine grundlegende Transformation benötigt. Wir brauchen auch hier eine Zeitenwende! Also keine weiteren kosmetischen Anpassungen, die die Gesundheitsakteure zunehmend verwirren, sondern einen radikalen Bruch mit alten Denkmustern. Hier ist an erster Stelle die starre Trennung zwischen den Versorgungssektoren mit grundlegenden und radikalen Reformschritten zu überwinden, um eine sektorenübergreifende, effiziente und patientenzentrierte Gesundheitsversorgung zu ermöglichen.

Diese Veränderung erfordert Mut – sowohl von der Politik als auch von den Akteuren im Gesundheitswesen. Die verschiedenen Bereiche müssen befähigt werden, stärker miteinander zu kooperieren und überkommene Strukturen hinter sich zu lassen. Die regionale Ebene ist dabei entscheidend, um maßgeschneiderte Lösungen sowohl für Patientinnen und Patienten als auch für die zunehmend frustrierten Health Care Professionals zu entwickeln und umzusetzen.

Eckhard Nagel ist Vorstandsvorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Integrierte Versorgung.

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