Im Innovationslabor des Landes Baden-Württemberg beschäftigen wir uns mit einem ganzen Blumenstrauß an Zukunftsthemen, die wir für die Zukunft unseres Landes als besonders entscheidend betrachten. Dabei gibt es selbstverständlich auch Themen, die wir als sehr vielversprechend ansehen, bislang aber aus Kapazitätsgründen noch nicht vorantreiben konnten. Und wie bei vielleicht einigen anderen Leserinnen oder Lesern gibt es da noch „dieses eine Projekt“, bei dem schon so oft die Umsetzung unmittelbar bevorstand, dann aber doch anderen Themen der Vorrang eingeräumt werden musste.
Worum geht es?
Ausgangsüberlegung dieses einen Projekts ist die Frage, wie und unter welchen Umständen es gelingen kann, Gesetze und sonstige Rechtsnormen so zu gestalten, dass sie mit möglichst geringem Aufwand, also besonders wirtschaftlich, vollzogen werden können. Dabei spielt es zunächst keine Rolle, ob es sich um Normen zur Umsetzung durch öffentliche Stellen – beispielsweise bei Verwaltungsangeboten – oder zur Umsetzung durch Private – beispielsweise als Adressaten von Regulierungen – handelt.
Sowohl öffentliche als auch private Stellen sehen sich der Herausforderung gegenüber, dass das Gesetzgebungshandwerk seit mehr als 4000 Jahren nahezu unverändert arbeitet. Bereits rund 2100 v.Chr. wurde im sogenannten „Codex Ur-Nammu“ Buchstabe um Buchstabe, Wort um Wort und Seite um Seite in sumerischer Sprache aneinandergereiht, so dass hieraus ein Text entstand – die erste und damit älteste Gesetzessammlung unseres Planeten.
Seit dem Codex Ur-Nammu hat sich rein handwerklich nur wenig an der Art und Weise verändert, wie Gesellschaften ihr Zusammenleben mit Rechtsnormen ausgestalten: Es werden so lange Schriftzeichen aneinandergereiht, bis man auf lineare Weise in Texten alles beschrieben hat, das geregelt werden soll. Dies erstaunt, ist doch die Welt in den vergangenen vier Jahrtausenden unendlich komplexer geworden und gibt es sonst nur noch wenige Lebensbereiche, die von der Digitalisierung nicht disruptiv verändert wurden.
Und doch bedienen sich Parlamente bei der Erschaffung von Regelungen, beispielswiese zum Einsatz Künstlicher Intelligenz, der Nutzung des Weltraums oder dem Umgang mit Per- und polyfluorierten Alkylverbindungen, kurzum: Themen, die vor 4.000 Jahren noch nicht einmal im Ansatz vorstellbar waren, weiter den (archaischen) Werkzeugen unserer Urahnen. Immer länger werdende, lineare Aneinanderreihungen von Buchstaben auf einem – wie auch immer gearteten – Trägermedium. Wort für Wort, Seite für Seite, Gesetz für Gesetz.
Längst spüren wir alle, wie die Verwendung veralteter Werkzeuge zur Regelung exponentiell komplexer werdender Realitäten an Grenzen stößt. Wir spüren es daran, dass wir inzwischen unter der Last der Bürokratie ächzen. Das selbst Menschen, die ihr ganzes Leben dem Studium der Gesetze widmen, nur noch einen winzig kleinen Ausschnitt davon beherrschen können. Oder auch daran, dass die Rechtsordnung vielfach mehr als Belastung, denn als die großartige Errungenschaft gesehen wird, die sie tatsächlich ist.
Deep Dive
Betrachten wir exemplarisch die KI-Regulierung in Form der KI-Verordnung, die so komplex geraten ist, dass der eigentliche Normtext erst nach 180 Vorbemerkungen, die sich über 44 eng bedruckte Seiten erstrecken, beginnt. Die so komplex geraten ist, dass der Normtext eine Lesezeit von mehr als acht Stunden verlangt, nach denen freilich noch nichts in seiner Tiefe verstanden ist. Die so komplex geworden ist, dass jüngst zur Erläuterung nur eines einzigen (!) Artikels Leitlinien veröffentlicht wurden, die 140 eng bedruckte Seiten füllen.
Tendenz weiter steigend, ist ein Ende doch noch lange nicht in Sicht und werden von tausenden von Menschen weitere tausende und abertausende Seiten (PDF-)Papier ausschließlich zur KI-Verordnung mit Inhalt befüllt, um zu beschreiben, was gesellschaftlicher Konsens ist. Dass aber die Gesellschaft längst nicht mehr in der Lage ist, ihren eigenen Konsens zu verstehen, scheint unausweichlich – so müsste es aber nicht sein. Wir erleben die Bürokratie in der Endstufe. Wir schaffen den KI-Codex Ur-Nammu in epischer Breite – über einen winzigen Aspekt unserer Gesellschaft.
Warum also fließt so unglaublich viel Energie in die Digitalisierung von Verwaltungsprozessen, und so wenig Energie in dieses eine Projekt, das hieran grundlegend etwas ändern könnte? Was wäre an Effizienzsteigerungen möglich, wenn Gesetze mit modernsten Tools ausgearbeitet und anschließend auch bereitgestellt würden und welche zwei Schlachten müssten wir schlagen, um einen großen Sieg in diesem Bereich zu erzielen?
Must-Win-Battle I
Der erste Bereich, den wir schnell angehen sollten: Gesetzgebern die modernsten und effizientesten digitalen Werkzeuge auf dem Planeten für ihre Arbeit zur Verfügung zu stellen. Ein erstes und vielleicht auch das wichtigste Werkzeug könnte – aus dem Bereich der Softwareentwicklung entlehnt – einer Git-basierten Plattform (Git ist ein verteiltes Versionskontrollsystem, das Entwicklern ermöglicht, Änderungen an Softwareprojekten effizient zu verfolgen, zu verwalten und zu koordinieren) ähneln.
Dort könnten Gesetze (oder GITsetze?) im verteilten, kollaborativen Prozess bearbeitet werden, ohne dass hierunter zu irgendeinem Zeitpunkt die Übersicht leidet. Alle Änderungen, Querverweise oder auch frühere und spätere Fassungen wären jederzeit technisch vollwertig verfügbar. Sowohl Öffentlichkeit als auch Parlament hätten jederzeit den vollen Überblick. Zugleich würde die maschinelle Weiterverarbeitbarkeit erheblich vereinfacht. Verwaltungen könnten neue Regelungen perspektivisch sogar automatisiert in ihre Prozesse übernehmen.
Die Mehrwerte modernster Technologie würden aber weit über den parlamentarischen Prozess hinausreichen. Die Normadressaten könnten sich bei entsprechendem Technologieeinsatz über jede Veränderung der für sie relevanten Normen in Echtzeit proaktiv informieren lassen. Unverständliche Artikelgesetze würden der Vergangenheit angehören, weil es jederzeit möglich ist, die Änderung am Gesetz im Gesamtkontext zu erleben. Bei jeder Veränderung an einem bestehenden Gesetzestext könnten auf einen Blick alle Implikationen auf andere Gesetze, die mit der veränderten Stelle im Zusammenhang stehen, erkannt und berücksichtigt werden – eine Grundvoraussetzung für konsistente und fehlerfreie Regelungen.
Must-Win-Battle II
Nach diesem ersten Schritt – echten digitalen Gesetzen – wäre es möglich, den zweiten, größeren Schritt zu gehen. Die Entwicklung digitaler Gesetze anhand einer festzustellenden oder neu festzulegenden Ontologie. Was bedeutet das? Der Staat und die Demokratie sind keine Naturwissenschaften. Das bedeutet, deren zugrundliegenden Konzepte entspringen nicht Naturgesetzen, sondern basieren auf menschengemachter – mehr oder weniger offensichtlichen – Logik. In der analogen Welt aber ist die automatisiert erschließbare Darstellung von Sinnzusammenhängen nur eingeschränkt möglich.
In der digitalen Welt indes wäre die Schaffung eines Sinnzusammenhangs, einer Ontologie der Gesetze, ausdrücklich und den Normen unmittelbar inhärent möglich. Alle rechtlichen Konstrukte in den Gesetzen könnten in einem logischen Verhältnis zueinander stehen, das ihren Zusammenhang beschreibt. Rechtliche Fragen, die heute in Compliance-Abteilungen für viel Arbeit und damit für Bürokratielast sorgen, würden auf einen Schlag entfallen.
Viele rechtliche Probleme würden nicht länger durch umfassende juristische Aufarbeitung von Fließtext beantwortet werden müssen, sondern sich eindeutig aus dem Gesetz ergeben: Beispielsweise welche Regulierungen ich als Unternehmen in einer bestimmten Branche mit einer bestimmten Mitarbeiterzahl erfüllen muss. Kleine Handwerksbetriebe könnten wieder (weitgehend) ohne Juristerei leben.
Doch das wäre erst der Anfang. Massenphänomene wie die Diesel-Klagewelle oder die aktuelle Überlastung der Kommunen durch Wohngeldanträge würden perspektivisch im Vollausbau echt digitaler Gesetze nicht mehr auftreten, weil die Bearbeitung des Rechts nur noch so viel Aufwand machen würde, wie das Booten des Computers mit seinem Betriebssystem. Die Ursachen unzureichend digitalisierter öffentlicher Leistungen würden behoben, anstelle sich an den Symptomen abzuarbeiten.
Hört sich unrealistisch an? Das dachten die Menschen vor 4.000 Jahren auch, als ihnen vorgeschlagen wurde, als Grundlage ihres Zusammenlebens ein mit Buchstaben behauenes Stück Stein heranzuziehen.
Call to Action
Ich bin überzeugt davon, dass digitale Gesetze einen größeren Return-on-Invest bieten könnten, als der Versuch, völlig analoge Gesetze digital abzubilden. Jennifer Pahlka beschreibt das bisherige Vorgehen zur öffentlichen Digitalisierung in Ihrem Buch „Recoding America“ sehr eindrücklich mit dem Vergleich vieler übereinander getrockneter Schichten an Farbe, an die sie die öffentlichen IT-Systeme erinnern.
Dieses Bild trifft es ziemlich gut, denn mit jeder neuen analogen Fassung eines analogen Gesetzes müssen wir eine neue digitale Farbschicht auf die digitalen IT-Systeme streichen, damit diese weiterhin funktionieren. Gesetz und IT-Systeme sollten aber beide originär digital sein und könnten dann viel stärker als synergetische Einheit zusammenwachsen.
Eine echte Chance, bei einer digitalen Zukunftstechnologie – digitalen Gesetzen – ganz vorne mit dabei zu sein. Wer macht mit, bei der Umsetzung „dieses einen Projekts“?
Björn Beck leitet das Innovationslabor der Landesregierung im Staatsministerium Baden-Württemberg. Es ist sein erster Beitrag für diese Rubrik.