Stark versiegelt und wenig grün: Die Mehrheit der Städte in Deutschland ist nicht gut gewappnet gegen hohe Temperaturen in Folge der Klimakrise. Zu diesem Ergebnis kommt zumindest der sogenannte Hitze-Check, den die Deutsche Umwelthilfe in diesem Jahr erstmals veröffentlicht hat. Untersucht wurden dabei insgesamt 190 Städte mit mehr als 50.000 Einwohnern. 24 von ihnen erhalten laut Hitze-Check eine rote Karte in puncto Flächenversiegelung und Grünausstattung; 82 weitere werden als gelb eingestuft. Das heißt, sie sind extrem stark versiegelt, haben aber wenigstens viele Grünflächen.
Angesichts dessen warnt die Bundesgeschäftsführerin der Deutschen Umwelthilfe, Barbara Metz, vor einem anhaltenden Trend zu immer mehr Beton und weniger Grün in unseren Städten. Entsprechend entwickeln sich die Kommunen hierzulande vermehrt zu regelrechten „Hitze-Höllen“. Diejenigen von uns, die in solchen Ballungsräumen leben und Jahr für Jahr mit den Auswirkungen immer heißerer Sommer zu kämpfen haben, wissen wahrscheinlich, wovon Frau Metz spricht. Denn hohe Lufttemperaturen belasten den menschlichen Körper und können gesundheitliche Probleme auslösen.
In Zukunft ist davon auszugehen, dass es in Deutschland immer mehr solcher Extremwetterphänomene gibt. Klimamodellierungen zeigen demnach klar, dass wir hierzulande mit länger anhaltenden Hitzeperioden und somit einer steigenden Anzahl an heißen Tagen rechnen müssen. Als heißer Tag gilt dem Deutschen Wetterdienst zufolge jeder Tag, dessen höchste Temperatur bei 30°C oder höher liegt. Wie also können wir uns dagegen wappnen und dafür sorgen, dass insbesondere die Sommer in den Städten nicht zu einer Dauerbelastung für die Bürger werden?
Daten gezielt und individuell nutzen
Um diesen Herausforderungen besser zu begegnen, hat die Stadt Braunschweig einen sogenannten digitalen Klimazwilling entwickelt. Konkret wurde das Projekt von der Abteilung Geoinformation der Stadt Braunschweig initiiert; unser Team vom Fraunhofer-Institut für Experimentelles Software Engineering IESE wurde als Unterauftragnehmer der „PD – Berater der öffentlichen Hand GmbH“ hinzugezogen, um unsere technische Expertise im Smart-City-Bereich einzubringen. Die Entwicklung des Klimazwillings war jedoch gar nicht das ursprünglich avisierte Projektziel. Übergeordnet war die Zusammenarbeit nämlich darauf ausgerichtet, ein detailliertes Konzept für die Realisierung einer urbanen Datenplattform und eines urbanen Digitalen Zwillings zu erarbeiten.
Eine solche urbane Datenplattform dient etwa dazu, bislang ungenutzte Datenquellen innerhalb einer Kommune digital zu erschließen und an einem von Verwaltung, Öffentlichkeit und Wirtschaft gemeinsam genutzten digitalen Ort zusammenzuführen. Auf diese Weise werden existierende Datensilos aufgebrochen und Synergieeffekte für verschiedenste Bereiche des städtischen Lebens frei. Ein urbaner Digitaler Zwilling wiederum dient dazu, kommunale Daten nicht nur in Echtzeit zu visualisieren und zu analysieren, sondern auch, um „Was-wäre-wenn“-Szenarien in Simulationen durchzuspielen. So können Entscheidungen innerhalb der Städte faktenbasierter und effizienter als zuvor getroffen werden.
Natürlich ist es wichtig, dass sowohl urbane Datenplattformen als auch urbane Digitale Zwillinge an konkreten Anwendungen orientiert entwickelt werden. Jede Stadt bringt ihre ganz eigenen Anforderungen mit sich und dementsprechend individuell sollten auch übergreifende technische Lösungen konzipiert werden. Den Projektinitiatoren in Braunschweig war es von Anfang an wichtig, im Rahmen des Projektes einen prototypischen Digitalen Zwilling mit spezifischem, greifbarem Mehrwert zu erschaffen, der als Blaupause für weitere ähnliche Anwendungsfälle dienen kann. Die Idee eines Klimazwillings wurde in Zusammenarbeit mit der Abteilung für strategische Umweltplanung der Stadt Braunschweig entwickelt und stach wegen seiner fachbereichsübergreifenden und gut begreifbaren Natur aus der Liste mehrerer Möglichkeiten heraus.
Klimazwilling als Open-Source-Lösung
Jedes Bauvorhaben innerhalb einer Stadt wirkt sich automatisch auch auf andere Lebens- und Arbeitsbereiche aus und will entsprechend geplant werden. Insbesondere mit Blick auf die Entstehung von möglichen Hitzeinseln ist es etwa wichtig, vorab die klimatischen Folgen neuer Bauprojekte zu prüfen. Normalerweise braucht es dafür ausschreibungspflichtige, externe Gutachten. Dieser Prozess ist nicht nur langwierig, sondern auch kostenintensiv. Deswegen ist es in der Regel nicht möglich, ein nach einem solchen Gutachten bereits angepasstes Bauvorhaben nochmals gegenprüfen zu lassen. Der bisherige Prozess ist also ein eindimensionales Vorgehen, das wenig Raum für Flexibilität lässt.
Abhilfe kann stattdessen der besagte Klimazwilling schaffen. Er verbindet ein virtuelles Abbild der Stadt Braunschweig inklusive des neuen Bauvorhabens mit einer auf Open-Source-Software basierenden Klimasimulation zu einem digital gestützten Planungs- und Optimierungsprozess. Ohne externe Instanzen zu Rate ziehen zu müssen, können die Konsequenzen des geplanten Bauvorhabens und seiner Verbesserungen in der Stadtverwaltung quasi live simuliert, beurteilt und fachbereichsübergreifend abgestimmt werden.
Klimazwilling als Blaupause für ähnliche Projekte
Die Vorteile des Klimazwillings im Vergleich zum bisherigen Planungsprozess für neue Bauvorhaben sind beachtlich. So werden damit der gesamte Prozessverlauf sowie die Ergebnisse an einer zentralen Stelle für alle Projektbeteiligten gebündelt und dokumentiert. Darüber hinaus können die Arbeitszeit und die Kosten mithilfe dieser selbstständig durchgeführten Klimagutachten erheblich reduziert werden. Dadurch ist es möglich, bereits kleinere und mittlere Bauvorhaben mit dem Klimazwilling zu prüfen; zuvor waren die Gutachten nur größeren Projekten vorbehalten. Und schließlich ermöglicht der Klimazwilling einen iterativen Ablauf des Planungsprozesses, sodass die Erkenntnisse aus der Klimasimulation unmittelbar in Verbesserungen der Planungen einfließen und wiederum vor Umsetzung überprüft werden können.
Dass Städte angesichts von immer heißeren Sommern und den daraus resultierenden gesundheitlichen Risiken für ihre Bürger handeln müssen, steht aus meiner Sicht außer Frage. Technische Werkzeuge wie der Klimazwilling der Stadt Braunschweig unterstützen Städte dabei, sich effizienter und effektiver gegen die Folgen des Klimawandels zu rüsten. Darüber hinaus ist das Projekt tatsächlich eine Blaupause für ähnliche Prozesse wie Starkregenanalyse, Vermeidung von Schadstoffemissionen oder die kommunale Wärmeplanung. Auch für diese Zwecke lässt sich das Prinzip des Digitalen Zwillings ideal anwenden.
Joachim Weber ist Experte für Internet of Things und KI in der Abteilung Smart City Engineering am Fraunhofer IESE in Kaiserslautern.