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Standpunkte Barrierefreiheit: Keine Nettigkeit – sondern ein Standortvorteil

Jürgen Dusel, Behindertenbeauftragter der Bundesregierung
Jürgen Dusel, Behindertenbeauftragter der Bundesregierung Foto: Henning Schacht

Barrierefreiheit ist ein Menschenrecht – wird aber noch immer als Nettigkeit empfunden, kritisiert Jürgen Dusel, Behindertenbeauftragter der Bundesregierung. Warum Barrierefreiheit endlich auch als Standortvorteil gesehen werden sollte, wie das neue Behindertenparlament dabei helfen will und wie Berlin zur Weltstadt für Barrierefreiheit werden kann, erklärt er in seinem Gastbeitrag.

von Jürgen Dusel

veröffentlicht am 14.01.2020

aktualisiert am 13.07.2022

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Lassen Sie sich auf ein Experiment ein: Stellen Sie sich vor, Sie könnten nichts sehen. Versuchen Sie nun, zu Fuß und mit öffentlichen Verkehrsmitteln (Autofahren ist in diesem Szenario nicht zu empfehlen) zur Arbeit oder ins Museum zu kommen. Ganz konkret, durchdenken Sie einmal den kompletten Weg: Aus der Wohnung hinaus, direkt zu Ihrem Arbeitsplatz. Sie verlassen Ihre Wohnung, folgen der Straße und ertasten mit Ihrem Blindenstock Gegenstände, die im Weg herumliegen oder -stehen: Leifahrräder, E-Roller, Sperrmüll. Sie laufen Slalom zur nächsten größeren Straße, dort wollen Sie über die Ampel. Leider funktioniert das akustische Signal nicht. Sie hören, dass Ihre Mitmenschen über die Straße gehen. Aber ob das bedeutet, dass die Ampel auf Grün steht?

Die BVG wirbt sogar selbstironisch mit schlecht verständlichen Durchsagen

Sie umtasten die kleine Baustelle, die gestern noch nicht da war, und gehen die Treppe hinunter in die U-Bahn. Mit ein bisschen Erfahrung hilft im Bahnhof das Tast-Leitsystem im Boden. Doch irgendetwas stimmt nicht: Der Bahnsteig ist überfüllt, die Durchsage ist nicht zu verstehen. Natürlich, damit wirbt die BVG ja sogar selbstironisch. Lohnt es sich zu warten? Komm die Bahn oder wäre ein Taxi vielleicht doch sinnvoller, um den dringenden Termin nicht zu verpassen? Sie tasten sich durch die Menge hindurch zur Info-Säule. Unterwegs fragt sie ein freundlicher junger Mann, ob sie Hilfe benötigen. Er greift sie ungefragt am Arm und führt sie zur Infosäule. Wollen Sie einfach so angefasst werden?

Immerhin, die Antwort aus der Leitstelle hilft weiter, nach ein paar Minuten kommt die Bahn. Sie warten lieber die nächste ab, es ist Grippesaison und gerade zu kuschelig eng. Der Rest der Fahrt verläuft glücklicherweise geplant. Das einzige Hindernis, das Sie noch erwartet, ist die defekte Drehtür im Bürogebäude Ihrer Firma. Tür defekt, Zutritt zum Gebäude über den Seiteneingang. Das steht auf einem Zettel an der Tür, wie Ihnen eine Kollegin später berichtet.

Barrierefreiheit wird noch immer als Nettigkeit verstanden

Diese Vorstellung hilft Ihnen vielleicht, einen kleinen Eindruck über die kleinen und großen Barrieren zu gewinnen, mit denen Menschen mit Behinderungen tagtäglich konfrontiert sind – um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Es geht nicht darum, zu jammern. Viele größere Städte, insbesondere Berlin, sind in den letzten Jahren in puncto Barrierefreiheit schon deutlich weitergekommen. Es ist leichter und selbstverständlicher geworden, zur Arbeit, ins Kino oder ins Museum zu kommen. Nicht selten sind es jedoch die großen und kleinen Widrigkeiten des Alltags, die zeigen, dass Barrierefreiheit oftmals nicht als verbrieftes Menschenrecht, sondern auch zehn Jahre nach Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention durch die Bundesrepublik noch immer als Nettigkeit empfunden wird.

Dabei sollten wir natürlich nicht nur die Barrierefreiheit für Menschen mit Sehbehinderungen oder mit Mobilitätseinschränkungen im Blick haben. Es geht auch um taube Menschen und Menschen mit Hörbehinderungen, Menschen mit kognitiven Einschränkungen oder auch mit seelischen Behinderungen. Barrierefreiheit ist ein weiter Begriff, denn die Anforderungen von Menschen mit verschiedensten Behinderungen sind ganz unterschiedlich.

Wir brauchen also nicht nur die Rampe am Eingang der Behörde oder am Bus. Wir brauchen auch zuverlässige (akustische) Blindenleitsysteme, Informationen in leichter Sprache oder in Gebärdensprache. Das oberste Ziel muss immer sein, dass jede und jeder sein oder ihr Leben in allen Bereichen möglichst selbstständig und so weit wie möglich ohne fremde Hilfe leben kann. Barrierefreiheit hat eine tiefe soziale Dimension, sie ist Voraussetzung für eine offene und inklusive Gesellschaft. Von Barrierefreiheit profitieren alle, nicht nur im demokratischen Sinne. Funktionierende Aufzüge sind für alle gut und nebenbei bemerkt: Ein bisschen leichte Sprache kann jedes amtliche Schreiben vertragen.

Vor wenigen Tagen hat sich das Berliner Behindertenparlament gegründet

Was häufig nicht bedacht wird: Barrierefreiheit muss von Beginn an sinnvoll geplant werden, sie kann nicht – oder nur schwer und dann natürlich kostenintensiv – erst im Nachhinein aufgesetzt werden. Wichtig ist es, dass Menschen mit Behinderungen von Beginn in allen Phasen beteiligt werden, von der Planung bis zur Umsetzung. Sie haben die Expertise. Schaut man jedoch zum Beispiel in den politischen Betrieb, werden sie in vielen Fällen faktisch ausgebremst. Die Möglichkeiten für Menschen mit Behinderungen, sich verbindlich politisch einzubringen, müssen deutlich verbessert werden.

Vor einigen Tagen hat sich das Berliner Behindertenparlament gegründet, eine tolle und sinnvolle Initiative. Eher früher als später sollten Menschen mit Behinderungen jedoch auch in Länderparlamenten wie dem Abgeordnetenhaus und im Bundestag vertreten sein. Sie haben genauso viel Gestaltungswillen und Kompetenz wie andere, im Themenfeld Inklusion und auch in allen anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens.

Berlin sollte Weltstadt für Barrierefreiheit werden

Ich bin davon überzeugt: Wer heute noch Barrieren errichtet, macht etwas falsch und ist schlichtweg unprofessionell. Im Jahr 2023 kommen die Special Olympics World Games, die Weltspiele für Menschen mit kognitiver Einschränkung, nach Berlin und Deutschland. Rund 7.000 Athletinnen, Athleten und ihre sportlichen Partnerinnen und Partner aus 170 Nationen werden Wettkämpfe in 25 Sportarten austragen. Meine Vision bis dahin: Berlin wird Weltstadt für Barrierefreiheit, vorbildlich in allen Bereichen. Dafür braucht es eine gemeinsame Anstrengung aller Akteure, übrigens nicht nur im öffentlichen Sektor. Barrierefreiheit und Inklusion sind eine Angelegenheit aller – auch privater Unternehmen.

Mein Wunsch ist, dass Barrierefreiheit endlich als das begriffen wird, was es wirklich ist: als wirtschaftlicher Standortvorteil. Und als Qualitätsstandard, nicht nur für modernes Bauen, sondern für eine moderne und fortschrittliche Gesellschaft insgesamt. Wenn wir so weit sind, sind wie dem großen Ziel Inklusion ein gutes Stück nähergekommen.

Jürgen Dusel ist seit 2018 Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen. Er ist von Geburt an stark sehbehindert. Heute Abend nimmt er in Berlin teil an der Podiumsdiskussion: „Barrieren in den Köpfen, Barrieren auf den Straßen! Wie inklusiv ist Berlin?“.

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