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Verkehr & Smart Mobility

Standpunkte Mobilitätswende ohne Schranken im Kopf und auf der Straße

Verena Bentele, Präsidentin des Sozialverbands VdK
Verena Bentele, Präsidentin des Sozialverbands VdK Foto: VdK/Marlene Gawrisch

Anlässlich des Welttags der Menschen mit Behinderungen: Sie sind Verkehrsteilnehmer, die bei der Mobilitätswende nicht ausgebremst werden dürfen. Es fehlt nicht nur an Barrierefreiheit im Verkehrsraum und in öffentlichen Verkehrsmitteln, sondern an einem ganzheitlich inklusiven Blick auf eine Stadtentwicklung und Verkehrsplanung, die niemanden ausschließt.

von Verena Bentele

veröffentlicht am 03.12.2024

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Denken wir an die Mobilität der Zukunft, sehen wir Städte mit wenig befahrenen Straßen, auf denen wenige elektrisch betriebene Autos summend rollen. Wir sehen Menschen, die mit dem Fahrrad, zu Fuß oder mit innovativen Fortbewegungsmitteln wie dem Flugtaxi unterwegs sind. Ausreichend und gut getaktete Bus- und Bahnverbindungen verkehren auch in ländlichen Gegenden. So schön die Vorstellung ist, so sehr müssen wir auf dem Weg dahin aufpassen, dass nicht zu viele Menschen ausgebremst werden.

Zum Arbeitsplatz, in die Schule, ins Fitnessstudio, zum Supermarkt, ins Theater – die alltäglichen Wege sind, Stand heute, für Menschen mit Behinderung allzu oft keine Selbstverständlichkeit, über die sie nicht nachdenken, die sie nicht planen müssen. Denken wir mal nicht an den dynamischen Rollstuhlfahrer, der sich geschickt durch die Innenstadt bewegt und mit Anlauf und einer Portion Kraft und Technik den Bordstein hochspringt. Denken wir jetzt auch nicht an die junge blinde Frau, die den Nahverkehr wie ihre Westentasche kennt. Diese Menschen sind auf eine barrierefreie Gestaltung angewiesen, jedoch ist deren Mobilität trotz Stufen und fehlender Ansagen in der Bahn nicht unmöglich.

Behinderung ist keine simple Kategorie

Als Sozialverband setzen wir uns für all die ein, die wegen sichtbarer oder unsichtbarer Einschränkungen bestimmte Rahmenbedingungen brauchen, um selbstverständlich mobil zu sein. Die Realität, die wir mit unserer Arbeit sichtbar machen wollen, ist so vielfältig wie die Mobilität selbst. Die Probleme und deren Lösungen liegen manchmal auf der Hand und viel zu oft tief vergraben in einer hinteren Schublade derer, die Ökologie, Ökonomie und soziale Nachhaltigkeit als Dreiklang denken wollen.

Circa acht Millionen Menschen in Deutschland haben eine anerkannte Schwerbehinderung. Als schwerbehindert gilt, wer einen Grad der Behinderung von mindestens 50 hat. Zusätzlich zu dieser Gruppe leben in Deutschland circa 2,8 Millionen Menschen mit einer leichten Behinderung. 89 Prozent der Behinderungen wurden im Laufe des Lebens erworben, circa zwei Drittel der Menschen mit Behinderungen sind 55 Jahre oder älter.

Deshalb wird klar: Barrierefreiheit ist keine simple Kategorie wie Stufe weg, und alles ist gut. Für bestimmte Personen, gerade die mit körperlichen Behinderungen, ist die Nutzung eines eigenen Autos oder die Beförderung mittels Taxi, Nachbarn, Kinder oder Enkel unerlässlich. Dabei handelt es sich auch um die Seniorin mit dem Rollator oder den Senior am Stock, die irgendwo in einem 200-Personen-Dorf ohne regelmäßige Anbindung mit Bus oder Bahn leben.

Autofreie Städte als Albtraum

Für diese Menschen ist die Aussicht auf autofreie Städte, wie sie häufig in den Hochglanzmagazinen der Verkehrsplanerinnen und Stadtentwickler entworfen werden, ein Albtraum. Sie werden sich nicht dynamisch auf einen E-Scooter schwingen, um die „letzte Meile“ von der Haltestelle oder dem Parkplatz im Randbezirk zu ihrem Ziel zu überbrücken. Sie werden sich wohl auch kein Flugtaxi von ihrer Rente leisten oder auf den Bau einer S-Bahn vertrauen können.

Diese Menschen sind und werden weiterhin auf das Auto angewiesen sein. Damit die Stadt der Zukunft auch für diese Menschen erreichbar bleibt, müssen einige Aspekte mitgedacht werden: An verkehrsberuhigten Zonen darf kein Schild mit der Aufschrift kleben: „Ihr müsst mit Eurem alten Auto draußen bleiben“.

Solange der barrierefreie Zugang in die Innenstadt zum Arzt nicht ohne Wenn und Aber, ohne Verspätungen, Stufen oder hohe Kosten möglich ist, wird das Auto wohl oder übel als Hilfsmittel weiterhin zum Stadtbild gehören. Wir brauchen eine Revolution, in der der Park mit Bäumen und Spielplatz gemeinsam gedacht wird mit dem Parkplatz, auf dem Menschen, für die das Auto kein Statussymbol, sondern Symbol ihrer Beweglichkeit ist, einen bezahlbaren Stellplatz finden.

Parkraumbewirtschaftung mit Bedacht

Uns allen sind die schönen, überdachten Sitzplätze vor einem Restaurant lieb und teuer. Damit diese geselligen Orte bleiben können, ist eine kreative Parkraumplanung nötig, die nicht die sogenannten Behindertenparkplätze als erstes streicht und nur noch wenige, teure Parkflächen ausweist.

Ein Anfang für diese Planung könnte eine statistische Erhebung dazu sein, wie viele Parkplätze für die nötig sind, die das Auto nicht aus Bequemlichkeit, sondern als einzige Alternative nutzen. In einem zweiten Schritt schlagen wir die Schaffung einer neuen Kategorie von Parkplätzen vor. Die soll sicherstellen, dass alle Menschen mit Behinderungen, auch solche, die die sehr hohen Anforderungen an einen Parkausweis heute nicht erfüllen, denen das Auto aber als Hilfsmittel dient, weiterhin ihr Ziel erreichen können.

Würden Parkflächen nur für das Auto als Hilfsmittel und für den Lieferverkehr und Haltezonen für Taxis bestehen, wären die Reduzierung des Verkehrs und die mittelfristige Lösung für die Herstellung von Barrierefreiheit eine gute Verbindung eingegangen. Die Reduzierung des individuellen Autoverkehrs voranzutreiben, muss unbedingt Vision und Wirklichkeit für die Stadt der Zukunft sein. Zentral ist hierfür die Gestaltung attraktiver Ortskerne. Denn insbesondere Familien mit kleinen Kindern und ältere Menschen mit einer Behinderung möchten sich vor Ort versorgen und nicht für alltägliche Erledigungen in das Gewusel der nächsten Großstadt eintauchen.

Daseinsvorsorge vor Ort

Aus VdK-Sicht ist es deshalb wichtig, die notwendige Daseinsvorsorge in Ortskernen zu erhalten oder wiederherzustellen. In vielen Dörfern, kleinen oder mittelgroßen Städten ist dies mittlerweile nicht mehr unbedingt gewährleistet. Die Verödung ganzer Ortskerne, der Mangel an Ärzten auf dem Land und das Wegbrechen von sozialen Begegnungsorten sind Phänomene, die den ländlichen Raum in der gesamten Republik betreffen. Die Menschen sind aber darauf angewiesen, dass sie Arztpraxen, Apotheken, Post- oder Bankfilialen, Lebensmittelläden, Cafés und Restaurants wohnortnah erreichen können, um ein lebenswertes Leben zu führen, ohne sich dafür in ein Auto setzen zu müssen.

Viele Konzepte der Mobilität der Zukunft setzen den Fokus vor allem darauf, dass der ÖPNV ausgebaut wird. Ergänzt durch innovative Verkehrsmittel soll eine Mobilitätsgarantie in Aussicht gestellt werden. Dieses fraglos wichtige Thema sollte aber gemeinsam gedacht werden mit niedrigschwelligen Möglichkeiten zur Bewältigung des Alltags ohne lange Wege.

Die Daseinsvorsorge vor Ort muss daher ein wichtiger Aspekt einer zukunftsgerichteten Mobilitätspolitik sein. Dazu gehört die Stärkung kommunaler Strukturen, die Gründung medizinischer Versorgungszentren in öffentlicher Hand oder aber das Drängen auf die Sicherstellung einer Grundversorgung durch das Filialnetz der Deutschen Post oder die Sparkassen.

Wir als VdK glauben daran, dass eine ökologische, sozial gerechte und inklusive Mobilitätswende gelingen kann, die für alle zu mehr Lebensqualität auf dem Land und in den Städten führen kann. Die Perspektiven von Menschen mit Behinderung bereichern diese Debatte und zeigen, dass Mobilität für alle möglich ist und niemanden ausbremst.

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