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Verkehr & Smart Mobility

Standpunkte Gekommen, um zu bleiben? Das deutsche Paradoxon

Donya-Florence Amer, Vorständin bei Hapag-Lloyd
Donya-Florence Amer, Vorständin bei Hapag-Lloyd Foto: Hapag-Lloyd AG

Migration war eines der Top-Themen im Bundestagswahlkampf. Dabei zeigt sich ein Widerspruch: Deutschland braucht dringend Fachkräfte aus dem Ausland, debattiert aber gleichzeitig über strengere Begrenzungen der Zuwanderung. Das lässt eine zentrale Frage unbeantwortet: Wie können Unternehmen gezielt internationale Fachkräfte anwerben, um den wirtschaftlichen Wohlstand langfristig zu sichern? Die Antwort: Sie müssen das Ruder in die Hand nehmen.

von Donya-Florence Amer

veröffentlicht am 03.03.2025

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Deutschland ist heute dringender denn je auf internationale Fachkräfte angewiesen. Die Babyboomer gehen in Rente und viele Stellen bleiben infolge des demografischen Wandels unbesetzt. Momentan sind es übergreifend etwa 1,3 Millionen offene Stellen, wie das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung IAB berichtet. Und diese Situation wird sich weiter zuspitzen: Allein in Hamburg werden laut HWWI Arbeitsmonitor bis 2040 rund 200.000 Fachkräfte in Pflege, Industrie, Logistik, Mobilität und weiteren systemrelevanten Feldern fehlen. Um dem zu begegnen, braucht es eine holistische Herangehensweise.

Warum Anwerbungen scheitern

Viele Unternehmen haben Schwierigkeiten, internationale Talente zu gewinnen, weil langwierige Visa-Prozesse und komplizierte Anerkennungsverfahren den Start erschweren. In manchen Botschaften dauert die Bearbeitung eines Visumantrags sechs bis neun Monate. Zudem gibt es hohe Mieten, Sprachbarrieren und begrenzte Arbeitsmarktzugänge für mitziehende Partner:innen, die den Start hierzulande massiv erschweren.

Nach einer OECD-Studie entscheiden sich viele Fachkräfte aufgrund dieser Herausforderungen gegen eine langfristige Perspektive in Deutschland. Fehlende gesellschaftliche Akzeptanz und mangelnde Integrationsangebote verstärken dieses Problem.

Im europäischen Vergleich hinkt Deutschland in dieser Hinsicht weit hinterher. Deutschland muss an seiner Willkommenskultur arbeiten. Polemik wie in diesem Wahlkampf und auf Abschottung ausgerichtete politische Vorstöße schrecken ab. Ob hoch qualifizierte Fachkraft oder systemrelevante Kraft im Niedriglohnsektor spielt dabei erstmal nur bedingt eine Rolle. Denn wir erschaffen ein gewisses Bild von Deutschland in den Köpfen im Ausland und es ist keines, in dem wir mit offenen Armen zu sehen sind.

Das ist nicht nur auf menschlicher Ebene tragisch, sondern auch ein Wirtschaftsrisiko. Bis 2029 müssen wir in Deutschland knapp 400.000 Zugewanderte in Arbeit bringen, um das System am Laufen zu halten – und zwar pro Jahr. Mehr als 80 Prozent des Beschäftigungsaufbaus der vergangenen fünf Jahre gehen auf ausländische Arbeitskräfte zurück. Um dies fortzuführen und die Krise abzuwenden, braucht es einen durchdachten Ansatz.

Fachkräftegewinnung holistisch denken

Hapag-Lloyd setzt auf eine gezielte internationale Rekrutierungsstrategie, insbesondere in Indien, wo wir mit mehreren Niederlassungen in sechs Städten vertreten sind. Wir bauen dabei auf zwei Säulen: zum einen auf interne Transfers und zum anderen auf Kooperationen mit Hochschulen, um qualifizierte Talente zu gewinnen, die wir in die deutsche Zentrale integrieren können. Heute arbeiten weltweit bereits mehr Inder:innen als Deutsche oder Angehörige anderer Nationalitäten bei Hapag-Lloyd. An unserem Hauptsitz in Hamburg stellen sie sogar die zweitgrößte Gruppe von Mitarbeitenden.

Eine erfolgreiche Rekrutierungsstrategie beginnt lange vor der Einreise und setzt sich auch noch lange nach der Ankunft fort. Darum steht für uns im Vordergrund, unsere Mitarbeitenden bei diesen Prozessen umfassend zu begleiten. Dazu gehören die Unterstützung bei Visa- und Aufenthaltsgenehmigungen, die wir durch die Zusammenarbeit mit spezialisierten Kanzleien beschleunigen können. Zusätzlich setzen wir auf die Blaue Karte EU, die hoch qualifizierten Fachkräften aus Drittstaaten eine erleichterte Arbeitsaufnahme und den Familiennachzug ermöglicht.

Hapag-Lloyd arbeitet mit Relocation-Agenturen zusammen, um den Umzug und die Eingewöhnung zu erleichtern. Die Agenturen organisieren temporäre Unterkünfte und vermitteln auch langfristigen Wohnraum. Sprachkurse und interkulturelle Trainings helfen dabei, den Einstieg in den Arbeitsalltag und das gesellschaftliche Leben zu erleichtern. Auch mitziehende Familienmitglieder werden in die Planung einbezogen: Unterstützung bei der Schul- und Kindergartensuche sowie Orientierungshilfen für Partner:innen auf dem Arbeitsmarkt sind feste Bestandteile unseres Integrationsprozesses.

Diese Maßnahmen erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass Fachkräfte bleiben und sich langfristig in Deutschland wohlfühlen. Wir tätigen dabei eine nicht zu unterschätzende Investition: Bis zu 30.000 Euro pro Fachkraft, um diese Prozesse reibungslos zu gestalten – eine Investition, die sich langfristig voll und ganz auszahlt.

Kein Schulterschluss von Unternehmen und Politik

Die Fachkräftegewinnung und die Integration von Neuankömmlingen müssen in Deutschland neu gedacht werden – von Unternehmen und Politik.

Unser Beispiel zeigt, dass Unternehmen, die sich aktiv um internationale Fachkräfte bemühen, langfristig profitieren. Ein erfolgreiches Konzept setzt auf eine gezielte Rekrutierung, eine schnelle Integration und umfassende Unterstützung im neuen Umfeld. Andere Unternehmen sollten diesen Ansatz übernehmen, anstatt auf politische Reformen zu warten.

Auch die Politik ist gefordert, um die Rahmenbedingungen zu verbessern. Bürokratische Hürden müssen weiter abgebaut und der Zugang zum Arbeitsmarkt für internationale Fachkräfte sowie deren Familien erleichtert werden. Schnelle und effiziente Visa- und Anerkennungsverfahren sind essenziell, um Deutschland als attraktiven Standort zu positionieren. Zudem müssen gesellschaftliche Akzeptanzprogramme gestärkt werden, um Fachkräften das Ankommen zu erleichtern.

Fachkräfte gewinnen und halten

Deutschland kann es sich nicht leisten, internationale Talente zu verlieren. Wirtschaft und Politik müssen gemeinsam handeln, damit Fachkräfte nicht nur kommen – sondern bleiben. Denn die Anwerbung ist nur ein kleiner Teil des Ganzen. Es geht nicht darum, Menschen zu finden, die in Deutschland arbeiten wollen. Es geht darum, ein Umfeld zu schaffen, in dem sich Menschen aus dem Ausland so wohlfühlen, dass sie Lust bekommen zu bleiben. Nur so profitieren wir langfristig. Und zwar alle.

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