Standpunkte Vorsprung fürs Klima: Wie Frontloading den ETS 2 retten kann




Das neue europäische Emissionshandelssystem für Gebäude und Verkehr (ETS 2) steht politisch unter Druck. Eine Verschiebung oder Verwässerung würde dringend benötigte Milliardeninvestitionen ausbremsen – und die europäische Klimapolitik destabilisieren. Ein ausgewogener Kompromiss mit vorgezogenen Einnahmen (Frontloading) könnte genau das verhindern.
Lernen Sie den Tagesspiegel Background kennen
Sie lesen einen kostenfreien Artikel vom Tagesspiegel Background. Testen Sie jetzt unser werktägliches Entscheider-Briefing und erhalten Sie exklusive und aktuelle Hintergrundinformationen für 30 Tage kostenfrei.
Jetzt kostenfrei testenDie Erweiterung des europäischen Emissionshandelssystems (EU-ETS) auf den Gebäude- und Verkehrssektor ab 2027 (EU-ETS 2) ist ein zentrales Instrument für die Dekarbonisierung zweier besonders emissionsintensiver und schwer zu transformierender Sektoren – und damit für das Erreichen der EU-Klimaziele bis 2030 und 2050. Doch politische Spannungen gefährden die Einführung. Vor allem die Sorge vor einer steilen Preiskurve und damit verbundenen Belastungen für Haushalte sorgt für Widerstand.
Tschechien und Estland fordern eine Verschiebung. Polens Premierminister plädiert sogar für eine grundlegende Neubewertung des EU-ETS 2 und des gesamten EU-Green-Deal. Ein neues „Non-Paper“, das laut Medienberichten von 16 EU-Staaten unterzeichnet wurde – darunter auch Deutschland – und inzwischen bei der EU-Kommission liegt, fordert in erster Linie eine Überarbeitung der Marktstabilitätsreserve (MSR), um das System krisenfester und sozial verträglicher zu gestalten.
Die nationalen Klimasozialpläne, die alle EU-Mitgliedsstaaten im Rahmen des ETS 2 bis Ende Juni 2025 vorlegen müssen, sollen gezielt auf die Belastungen reagieren, die durch die Einführung des Systems insbesondere für sozial benachteiligte Gruppen entstehen – und sind zugleich Voraussetzung für den Zugang zum EU-Klimasozialfonds. Ein aktueller Bericht zeigt jedoch, dass einige Mitgliedstaaten bei der Ausarbeitung ihrer Pläne noch erhebliche Lücken aufweisen und sich die fristgerechte Einreichung somit verzögern dürfte. Diese Entwicklungen legen nahe, dass sich die Mitgliedstaaten bislang unzureichend auf die Umsetzung des ETS 2 vorbereitet haben – ein beunruhigendes Signal für die Funktionsfähigkeit des Systems.
Warum der EU ETS 2 dringend verteidigt werden muss
Eine Destabilisierung des EU-ETS2 könnte zu einer Verwässerung des gesamten europäischen Emissionshandelssystems führen – mit weitreichenden Investitions- und Klimarisiken. Auch eine zeitlich oder geografisch versetzte Verschiebung würde den Markt für CO2-Zertifikate verzerren und damit die gewünschte Lenkungswirkung erheblich schwächen.
Das EU-ETS bildet das zentrale Instrument zur Emissionsminderung in der Europäischen Union. Es bietet nicht nur eine langfristige Orientierung für Investitionen und Dekarbonisierungsstrategien, sondern dient auch als Grundlage für nationale Klimainstrumente – etwa Carbon Contracts for Difference – sowie für internationale Mechanismen wie den CO2-Grenzausgleich CBAM. Dessen Einführung hat bereits mehrere Länder dazu veranlasst, eigene CO2-Bepreisungssysteme auf den Weg zu bringen.
Ohne tragfähige Kompromisse zwischen den Mitgliedstaaten, die eine funktionierende Umsetzung des EU-ETS-2 ermöglichen, droht ein gefährlicher Rückschritt der gesamten europäischen Klimapolitik – und ein weltweiter Vertrauensverlust in CO2-Bepreisung als wirkungsvolles Klimainstrument.
Der Vorschlag für das Vorziehen der EU-ETS 2 Einnahmen („Frontloading“)
Die Herausforderung ist daher: Wie lässt sich der Kern des EU-ETS 2 – Kosteneffizienz und Marktwirtschaftlichkeit – stärker mit sozialer Fairness und unmittelbarer politischer Umsetzbarkeit verbinden? Es braucht gezielte Maßnahmen, die kurzfristig entlasten und langfristig wirken. Genau hier setzt unser Vorschlag des „Revenue Frontloading“ an: Künftige Einnahmen aus dem EU-ETS 2 könnten vorgezogen werden, um bereits vor dem Start 2027 die dringend benötigten Investitionen in Infrastruktur und soziale Ausgleichsmaßnahmen zu ermöglichen.
Zwar können Anpassungen an den Parametern der MSR und am Umsetzungszeitplan kurzfristig zu niedrigeren Zertifikatspreisen führen. Doch diese Einsparungen heute gehen mit einem höheren Emissionsminderungsbedarf in der Zukunft einher – und damit mit steigenden Kosten. Ein frühzeitiger Mitteleinsatz durch Frontloading kann diesen Zielkonflikt entschärfen, ohne die Preissignale des ETS2 langfristig zu untergraben.
Eine EU-Fazilität – etwa unter Einbindung der Europäischen Investitionsbank (EIB) – könnte den Mitgliedstaaten Mittel aus künftigen Auktionserlösen vorab zur Verfügung stellen, ohne dass diese als Staatsverschuldung angerechnet würden. Bei einem konservativ geschätzten CO2-Preis von 65 Euro pro Tonne ließen sich damit im Zeitraum 2025 bis 2027 rund 50 Milliarden Euro mobilisieren.
Mitgliedstaaten, die dieses Instrument nutzen, könnten so bereits in den ersten Jahren des EU-ETS 2 – also von 2025 bis 2027 – erhebliche Teile der erwarteten Einnahmen investieren, um den Übergang zur Dekarbonisierung in den betroffenen Sektoren zu beschleunigen. Da es sich weiterhin um ETS-Einnahmen handelt, gilt die gesetzlich verankerte Zweckbindung: Artikel 30d Absatz 6 der ETS-Richtlinie schreibt vor, dass die Mittel ausschließlich für die Dekarbonisierung der betroffenen Sektoren sowie für Unterstützung schutzbedürftiger Haushalte und Verkehrsnutzer verwendet werden dürfen.
Zweifaches Ziel: Investitionen und soziale Kompensation
Ein häufig vorgebrachtes Argument gegen die Einführung des EU-ETS 2 zum geplanten Zeitpunkt lautet, dass eine Verschiebung den Mitgliedstaaten mehr Zeit zur Vorbereitung geben könnte – insbesondere im Hinblick auf die soziale Abfederung steigender Energiepreise. Genau hier setzt Frontloading an: Es ermöglicht die planmäßige Einführung des Systems und stellt gleichzeitig zusätzliche Mittel für Investitionen und soziale Kompensation frühzeitig bereit.
Wie bei den Klimasozialplänen entscheiden die Mitgliedstaaten eigenständig über die konkrete Verwendung der Frontloading-Mittel – sind dabei jedoch an die Zweckbindung der EU-ETS-Richtlinie gebunden. Frühzeitige Investitionen sind entscheidend, um die nötige Infrastruktur für klimafreundliche Alternativen aufzubauen – etwa Wärmenetze, Gebäudesanierungen, Elektromobilität und den Ausbau des ÖPNV. Nur so lassen sich die Preissignale des Emissionshandels effizient abfedern und Marktversagen in diesen Sektoren vermeiden.
Ergänzend braucht es flankierende Maßnahmen wie ein Klimageld, um belastete Haushalte gezielt zu entlasten und die gesellschaftliche Akzeptanz des EU-ETS 2 dauerhaft zu sichern. Die Auszahlung sollte dabei so einfach, zielgerichtet und unbürokratisch wie möglich erfolgen – idealerweise über bestehende Systeme wie Steuer- oder Sozialverwaltungen. Entscheidend sind dabei Transparenz und politische Kommunikation.
In Deutschland blieben entsprechende Maßnahmen bislang aus: Die vorige Bundesregierung kündigte ein Klimageld an, setzte es jedoch nie um. Auch der aktuelle Koalitionsvertrag verspricht, Einnahmen aus dem Emissionshandel an die Bürgerinnen und Bürger zurückzugeben – legt aber nicht fest, wie. Denkbare Modelle sind pauschale Pro-Kopf-Auszahlungen oder zielgerichtete Transfers auf Basis des Einkommens. Doch damit diese Mittel überhaupt wirken können, müssen sie zunächst verfügbar sein.
Frontloading bietet die Chance, Einnahmen verfügbar zu machen, bevor soziale Härten entstehen. So können notwendige Investitionen ermöglicht und gesellschaftliche Akzeptanz gleichzeitig gesichert werden. Der Zeitpunkt, dieses Instrument politisch zu nutzen, ist jetzt.
Lernen Sie den Tagesspiegel Background kennen
Sie lesen einen kostenfreien Artikel vom Tagesspiegel Background. Testen Sie jetzt unser werktägliches Entscheider-Briefing und erhalten Sie exklusive und aktuelle Hintergrundinformationen für 30 Tage kostenfrei.
Jetzt kostenfrei testen