Ernährungssicherheit ist eine der drängendsten Herausforderungen unserer Zeit, besonders angesichts des Klimawandels, des Bevölkerungswachstums und der Ressourcenknappheit. Die gute Nachricht ist: Pilze könnten ein Schlüssel zur Bewältigung dieser Herausforderungen sein. Was wir jedoch als Pilz kennen, ist lediglich der Fruchtkörper. Das eigentliche Potenzial steckt im unterirdischen Wurzelwerk des Pilzes und wird Myzel genannt.
Bei seinem Wachstum zersetzt das Myzel organisches Material, um Nährstoffe aufzunehmen. Es kann sich mit Materialien wie Stroh, Sägespänen oder Kaffeesatz verbinden und eine schwammartige Struktur bilden. Daraus können zahlreiche Produkte entstehen, beispielsweise Baumaterialien, Lederimitate, Verpackungsmaterialien oder Fleischersatz.
Eine weitere Superkraft des Myzel ist, dass es zum Gedeihen weder Sonnenlicht noch große Landflächen benötigt. Es kann Biomasse abbauen, Nährstoffe weitergeben und Reststoffe aus der Lebensmittelproduktion, beispielsweise aus der Bierindustrie oder aus Molkereien, verwerten. Damit kann es nicht nur zur Ernährungssicherheit beitragen, sondern auch zum Kampf gegen die Klimakrise.
Doch trotz dieser vielversprechenden Eigenschaften bleibt das Potenzial von Myzelien leider weitgehend ungenutzt. Die Gründe dafür sind mangelndes Bewusstsein, technologische Beschränkungen und die Vorliebe der Hersteller und Verbraucher für herkömmliche Materialien und Produkte.
Regulierungen für neuartige Lebensmittel lahmen
Hinzu kommt, dass die Myzelien unter die Novel-Food-Regulierung der EU fallen. Denn auch, wenn es sich an sich um etablierte Speisepilze handelt, ist die neuartige Kultivierung des Myzels, auch in Bezug auf die neueren Fermentationsprozesse, eine zulassungsbedürftige Lebensmitteltechnologie. Natürlich ist es wichtig, dass auch diese Lebensmittel sicher sind. Die Verbrauchersicherheit hat stets oberste Priorität. Das Problem ist jedoch, dass das EU-Zulassungsverfahren schwer zu durchschauen ist – und sich über Jahre ziehen kann.
Kein Wunder, dass das europäische Novel-Food-Verfahren zu den strengsten der Welt gehört: Für die Marktzulassung werden nicht nur Sicherheitsdaten, sondern auch mögliche allergene Reaktionen und langfristige gesundheitliche Auswirkungen bewertet. Auch ökologische Nachhaltigkeit und ethische Aspekte gewinnen zunehmend an Bedeutung. Zusätzlich müssen Hersteller detaillierte Informationen zur Produktionsweise und zur Herkunft der Myzelien bereitstellen, um Transparenz und Rückverfolgbarkeit zu gewährleisten.
Auch die mögliche Auswirkung auf die Umwelt wird im Rahmen des Prozesses untersucht. Es ist gut, dass diese strengen Regulierungen dafür sorgen, dass neuartige Lebensmittel nicht nur sicher, sondern auch nachhaltig und verantwortungsvoll produziert werden.
Rahmenbedingungen für die Marktzulassung für Unternehmen kaum stemmbar
Die Marktzulassungsverfahren für neuartige Lebensmittel müssten in der EU allerdings beschleunigt werden, um Unternehmen eine bessere Perspektive zu geben. Dass die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (Efsa) mitunter bis zu fünf Jahre Zeit hat, um zu entscheiden, ob ein neuartiges Lebensmittel sicher ist, führt dazu, dass Innovationen künftig in Nicht-EU-Länder wie Singapur oder die USA abwandern werden.
Die langwierigen Verfahren stellen eine erhebliche Hürde insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen dar, die nicht über die finanziellen Mittel verfügen. Die für die Zulassung erforderlichen toxikologischen Studien kosten oft mehrere hunderttausend Euro, sind aber notwendig, um die von der EU geforderten Sicherheitsstandards belegen zu können.
Eine Möglichkeit kann sein, dass Unternehmen Allianzen bilden, um Studienkosten zu teilen, um so den Marktzugang zu erleichtern. Doch um das Potenzial von Myzelien voll auszuschöpfen und ihre Rolle in der globalen Ernährungssicherheit zu stärken, sind unterstützende Rahmenbedingungen aus der Politik unerlässlich. Unternehmen, insbesondere solche mit hohen Kapitalanforderungen, sind auf nicht-verwässernde Finanzierungsmöglichkeiten angewiesen – also auf Finanzierungen, bei denen sie kein Eigenkapital oder Unternehmensanteile abgeben müssen.
So könnten sie die notwendigen Anlagen bauen und ihre Technologien weiterentwickeln, ohne die Kontrolle über ihr Unternehmen zu verlieren.
Ebenso wichtig ist die Unterstützung durch bestehende Akteur:innen im Lebensmittelsystem. Alle Beteiligten – von der Landwirtschaft über die Lebensmittelindustrie bis hin zu politischen Entscheidungsträger:innen – müssen motiviert und eingebunden werden, damit myzelienbasierte Lebensmittel ihren Weg auf die Teller der Verbraucher:innen finden.
Myzel als Teil einer nachhaltigen Zukunft
Viele Start-ups arbeiten bereits daran, Produkte aus Myzelien erschwinglich und in verschiedenen Formen verfügbar zu machen. In Asien hat man bereits umfassende Erfahrung in der Produktion und Vermarktung von Myzelprodukten. In der japanischen Kultur beispielsweise wird das Myzel von Aspergillus oryzae (Koji) in großem Umfang für die Herstellung von fermentierten Lebensmitteln wie Miso, Sojasauce und Sake verwendet.
Solche Erfahrungen könnten als Vorbild dienen, um die Marktpräsenz in Europa zu stärken. Europäische Regierungen sind darüber hinaus gefordert, die vielen Vorteile von Myzelien zu erkennen und diese der breiten Öffentlichkeit noch besser bekannt zu machen. Bildungsinitiativen, die über die Vorteile und Möglichkeiten von Myzel informieren, könnten etwa dazu beitragen, die Akzeptanz und Marktentwicklung von Myzelprodukten zu beschleunigen.
Mit den richtigen Maßnahmen und einem koordinierten Ansatz kann das Myzel von Pilzen einen bedeutenden Beitrag zur Erreichung der UN-Ziele leisten und die Welt ein Stück näher an eine Vision ohne Hunger bringen.